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Kirchenhistoriker Hubert Wolf und Papst Pius XII. (Bilddarstellung Sala Marconi) Kirchenhistoriker Hubert Wolf und Papst Pius XII. (Bilddarstellung Sala Marconi) 

Online-Archiv für Bittbriefe von Juden an Pius XII. im Holocaust geplant

Die jüdischen Bittschreiben an Papst Pius XII. sollen in einem Online-Archiv zugänglich gemacht werden. Ein entsprechendes historisches Projekt will die Geschichte der europäischen Juden im Nationalsozialismus aufarbeiten. Federführend ist der deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf, er stellte seine Initiative dieser Tage in Rom vor.

Mario Galgano - Vatikanstadt

Leider würden die letzten Holocaust-Überlebenden nicht mehr lange in der Lage sein, selbst über diese Zeit zu sprechen, so Wolf. Umso wichtiger sei es darum, den Zugang zu dieser Zeit, den Leben dieser Menschen zu erhalten. Mit dem Projekt „Asking the Pope for Help“ sollen nun rund 15.000 Bittschreiben an Pius XII. (1939-1958) in einem Online-Archiv frei zugänglich gemacht werden. Kirchenhistoriker Wolf sagt gegenüber Radio Vatikan, dass diese Schriften deshalb so wichtig seien, weil es nicht einfach nur Informationen über Juden seien, sondern sie würden sie selber sprechen lassen:

„Das heißt, Menschen in einer Not, Menschen in einer Verfolgung, Menschen, die vor der Deportation nach Auschwitz stehen, schreiben dem Papst, dem Kardinalstaatssekretär oder der römischen Kurie allgemein. Sie wissen manchmal gar nicht, wie sie ihn anreden müssen: z.B. schreiben einige dem Papst mit ,Eure Majestät´ an. Manche wissen, dass man ihn mit ,Eure Heiligkeit ´ anschreiben soll. Man hört hier jüdische Menschen, deren Andenken die Nationalsozialisten auslöschen wollten - und jetzt haben wir die Chance, sie zu hören dank dieser sogenannten Ego-Dokumente.“

Zum Nachhören - was Kirchenhistoriker Hubert Wolf über die Bittschreiben an Pius XII. sagt

Diesen jüdischen Menschen eine Stimme zu geben oder ein Gesicht, Angesicht der Tatsache, dass die Nationalsozialisten dieses Andenken auslöschen wollten, sei eine einmalige und für ihn „überraschende Möglichkeit“, so Wolf.

„Und wir haben jetzt nach anderthalb Jahren Vorbereitung durch die Stiftung EVZ und das Auswärtige Amt sowie die Bayer-Stiftung und die Krupp-Stiftung und SAP die Möglichkeit, erstmal für fünf Jahre und dann hoffentlich noch einmal für fünf Jahre, alle diese Bittschriften zu finden und alle in einer digitalen Edition zugänglich zu machen und in einem zweiten Schritt, den gesamten Verlauf zu verfolgen, den eine solche Bittschrift in der Kurie nimmt. Das kann ganz unterschiedlich sein und man muss für einen Fall oft 15 Serien angucken, um ihn vollständig zusammen puzzeln zu können. Das ist sozusagen die Möglichkeit, die wir jetzt haben.“

Seit zwei Jahren zugänglich

Vor zwei Jahren waren im Vatikan die Archivbestände zu Papst Pius XII. für die Forschung geöffnet worden. Ein Historiker-Team um Wolf entdeckte dabei die Bittschreiben, deren Zahl sich auf vorerst geschätzte 15.000 beläuft. Auch wenn die Briefe nur Aspekte des jeweiligen Lebens der jüdischen Person enthielten, könne viel mehr als das herausgelesen werden, erklärte der Professor. Wolf hofft, dass damit auch dem wieder steigenden Antisemitismus in Europa entgegengewirkt werden könne:

„Denn es ist diesmal keine Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Es ist natürlich ein wissenschaftliches Projekt und ein digitales Projekt und es entspricht wissenschaftlichen Standards, aber es ist ein Projekt, das einem Ziel dienen soll: Und zwar geht es um die Aufarbeitung und Schutz vor Antisemitismus. Wir haben ein großes Interesse daran, dies einzubringen. Wir haben von der Bundeszentrale für politische Bildung und von ganz unterschiedlichen Leuten, in der Schule, für Geschichtsunterricht, für Religionsunterricht, für die Parteiarbeit oder für Citizenship-Programme und für alles, wo wir sagen, die Information, dass 6 Millionen Menschen ermordet worden sind, ist schrecklich, aber irgendwie stumpft uns das ab. Da möchten wir etwas entgegenwirken.“

Wolf hat einige der Bittschriften bereits in der Öffentlichkeit vorgetragen:

„Ganz viele Menschen haben geweint und selbst junge Menschen brauchten ein Taschentuch. Da heißt es in einem Bittschreiben: ,Heiliger Vater,  retten Sie  uns! Ich bin ein Rabbinats-Kandidat, 19 Jahre alt, ich habe noch keinen einzigen guten Tag in meinem Leben gehabt. Meine Wiege stand in Berlin, dann musste ich fliehen als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Zunächst ging ich nach Warschau, dann nach Amsterdam, nach Paris, dann nach Toulouse und nun sitze ich Ende 1942 in Toulouse und die Deportation in ein Vernichtungslager steht bevor. Retten Sie uns! Retten Sie mich und meine Familie! Wir wissen, dass es einen einzigen Schöpfer im Himmel gibt. Er wird es Ihnen danken. Sprechen Sie mit der Schweizer Fremdenverkehrspolizei, damit wir ein Visum bekommen, damit mein Bruder meine Eltern und ich gerettet werden.´ Retten sie uns!´“

Das Agieren des Vatikans

So sei es über die Schriften möglich, das Agieren des Vatikans und des Papstes im Nationalsozialismus näher zu beleuchten, sagte der Historiker. Inhaltlich sei es bei den Anfragen nicht nur um finanzielle Unterstützung gegangen, auch Hilfe bei Familienzusammenführungen oder der Flucht aus Europa seien Themen. Dabei habe der Vatikan auch auf diplomatischer Ebene agiert. Wolf:

„Es war jetzt ziemlich wörtlich dieses Schreiben und jetzt können Sie sehen, was macht der Heilige Stuhl? Er reagiert sofort. Der Kardinalstaatssekretär schreibt wenige Tage nachdem Briefe in Rom eingeht an den Nuntius in Bern und sagt: reden Sie mit der Schweizer Fremdenverkehrspolizei; bitten Sie für die Familie um ein Visum. Die Schweizer Fremdenverkehrspolizei sagt nein. Und der Nuntius in Vichy kriegt dann die Antwort und antwortet dem jungen Juden, dass der Vatikan nicht helfen kann. Wir wissen aber bisher noch nicht, ob der junge Jude überlebt hat oder nicht. Das können uns die vatikanischen Archive ja nicht sagen, da brauchen wir die Datenbanken von Yad Vashem, wir brauchen die Dokumente des Holocaust Memorial in Washington, wir brauchen andere Anhaltspunkte.“

Wichtig sei, die Forschung nicht auf die Rolle von Pius XII. zu zentrieren, sondern das Handeln der gesamten Kurie in den Blick zu nehmen, so Wolf:

„Auf diese Weise können wir das gesamte Schicksal rekonstruieren. Aber das Ego-Dokument, dieses unmittelbare, das ist das Entscheidende. Aus der Schweiz hieß es, die Unterlagen der Fremdenverkehrspolizei sind nicht erhalten. Der Vatikan hat seine Unterlagen aufgehoben. Das muss man vielleicht auch einfach mal sagen, und das führt für mich eben zu diesem Paradigmenwechsel: ich wollte eigentlich eine neue Biografie von Pius XII. schreiben. Aber ich werde stattdessen diesen jüdischen Menschen eine Stimme geben. Dazu werde ich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern daran arbeiten, ihnen eine Stimme zu geben und zwar allen, denn eines ist auch klar: wir schätzen, dass es 15.000 sind. Das können 12.000 Bittschriften sein. Dies kann man noch nicht wissen. Wir können keine Auswahl treffen. Es ist interessant zu fragen, nach welchem Kriterium man sagte, ob diese Frau ein Recht auf ein Visum hat und jener nicht.“

Noch stünde „Asking the Pope for Help“ in den Anfängen. Zehn bis zwölf Jahre könne es dauern, bis alle Schreiben digitalisiert seien, schätzt der Münsteraner Historiker. Die Website selbst solle aber schon früher zugänglich sein. Neben der Forschung sollen die Bittschriften dann vor allem für die politische Bildung genutzt werden - didaktisch so aufbereitet, dass jungen Menschen ein Zugang zu dieser Zeit und diesen Menschen ermöglicht werden.

(vatican news/kap)

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29. April 2022, 10:32