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"Nie wieder? Schon wieder!" von Michael Wolffsohn "Nie wieder? Schon wieder!" von Michael Wolffsohn 

Nie wieder? Schon wieder! Ein Buchtipp

Den Antisemitismus wird Deutschland nicht los, allem ritualisierten Gedenken und „Nie wieder!“-Rufen zum Trotz. Dieses ernüchternde Fazit durchzieht das aktuelle Buch des jüdischen Historikers Michael Wolffsohn, der mit klarer Sprache und schonungslos die Selbstwidersprüche und Lebenslügen einer Gesellschaft entlarvt, die sich stets gegen Antisemitismus positionieren wolle, ihn aber gleichzeitig zur Voraussetzung von gesellschaftlicher Teilhabe mache.

Wenzel Widenka – Vatikanstadt

Eigentlich wollte Michael Wolffsohn eine Rede zum 09. November halten. Die Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, Cornelia Seibeld, hatte den bekannten Historiker gebeten, am Gedenktag von Hitlerputsch, Reichskristallnacht und Mauerfall Worte der Einordnung und Reflexion zu finden. Doch zu der erwähnten Rede wird es nie kommen. Am 07. November 2023 überfallen Hamas-Terroristen Israel, ermorden auf bestialische Weise mehr als tausend Einwohner des jüdischen Staates und entführen über 200 Geiseln in den Gazastreifen. Das schlimmste Pogrom an Juden seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Schock des Gemetzels und die Ereignisse zwingen Wolffsohn dazu, seine Rede grundlegend zu überarbeiten. Denn zum 07. Oktober gehören auch solche Bilder: Feiernde Muslime in Neukölln und anderswo, die sich über tote Juden freuen - unmittelbar nach dem Angriff und lange, bevor international die Stimmung gegen Israel kippt, das auf den Angriff mit einer großangelegten Militäraktion gegen Gaza antwortet, um die Hamas auszuschalten. Doch wenn wir genau hinsehen, ist dieser Zeitraum gar nicht so lang.

Besucher beim Denkmal für die ermordeten eruopäischen Juden in Berlin
Besucher beim Denkmal für die ermordeten eruopäischen Juden in Berlin
Zum Nachhören

Wolffsohn hat beide Reden abgedruckt und sie mit einem einleitenden Überblick sowie einem nachdenklichen Ausblick versehen. Das Ergebnis ist ein kleiner, doch meinungsstarker Band namens „Nie wieder? Schon wieder!“. Seine wenigen Seiten zerlegen systematisch die Illusion, die Gesellschaft wäre hinter dem Slogan „Nie wieder!“ vereint und stelle sich gegen Antisemitismus. Das Gegenteil ist der Fall, so Wolffsohns Beobachtung.

Messerscharfe Analyse

Wolffsohn ist nicht bekannt dafür, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Und so ist „Nie wieder? Schon wieder!“ eine kleine Streitschrift geworden, aber eine alles andere als platte. Für die Hintergründe und Quellen verweist Wolffsohn immer wieder auf sein Werk „Eine andere jüdische Geschichte“ aus dem Jahr 2022. Auf den wenigen Seiten seines aktuellen Werkes kann er direkt die Missstände benennen, die jüdisches Leben im Deutschland des Jahres 2024 gefährden.

Leere Rituale, die niemand erreichen

Da sei zum einen die völlig ritualisierte öffentliche Beschäftigung mit der Vergangenheit. Eine persönliche Verbindung zum Geschehenen könne so nicht erreicht werden, meint Wolffsohn. Die Rituale, Gedenktage, Massendemonstrationen und Schweigemärsche dienen nicht den Opfern, sondern nur der Selbstvergewisserung einer Gesellschaft, auf der „richtigen“ Seite zu stehen.

Wolffsohn hält diese Entwicklungen für fatal. Gedenken werde so zu einer ausschließlich innerdeutschen Angelegenheit für eine zunehmen schrumpfende Gruppe von Bewohnern. Migranten, Flüchtlinge und Neubürger aus anderen Kulturen nähmen an, dass sie diese Rituale nicht beträfen. Der Holocaust werde eine interne Angelegenheit der Deutschen. Bis hin zur Phrase postkolonialer Theoretiker, hier hätten eben nur „Weiße“ „Weiße“ umgebracht.

Theoretiker bilden unmittelbare Gefahr

Es sind solche Theoretiker, die für Wolffsohn eine unmittelbare Gefahr für jüdisches Leben darstellen und die die Gräueltaten des 07. Oktober ideologisch vorbereiteten. Denn durch die Kennzeichnung des Juden als „Weiß“ werde das jüdische Volk zum Tätervolk gegenüber allen angeblich entrechteten und unterdrückten Opfern des europäischen Kolonialismus, somit selbst zum Kolonisator. Das ist es, was Wolffsohn mit Bezug auf Heinrich Heine, der im 19. Jahrhundert vom Juden- zum protestantischen Christentum konvertierte, als „Eintrittskarte“ in die oberen Gesellschaftsschichten bezeichnet: Für hippe Theorien und aktuelle Kunst müsse man Antisemit sein, um mitreden zu dürfen. Mit Leuten auf der „falschen“ Seite der alten, weißen Männer wolle hingegen niemand reden, der etwas auf seine gesellschaftliche Avantgarde hält.

Zwar hätten sie sich nicht die Hände schmutzig gemacht. Das übernahmen die durch jahrhundertealte islamische Judenfeindschaft vorbereiteten Terroristen der Hamas. Aber sie relativierten, warben um Verständnis für die Terroristen, verbreiteten das Narrativ von „Freiheit für Palästina“, als es schon lange nicht mehr um politische Differenzen, sondern um blanken Mord ging.

Größter Feind jüdischer Sicherheit

Für Wolffsohn ist der Islamistische Judenhass der größte und tödlichste Feind jüdischen Lebens in Deutschland und weltweit. Und er beobachtet mit Entsetzen, wie er sich in seinen primitivsten und brutalsten Formen auch in dem Land ausbreiten kann, in das seine Familie nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt ist. Zwar erlebte die Familie Wolffsohn noch den „alten“, genuin deutschen Antisemitismus von rechts, den es immer weiter gab. Doch für weitaus bedrohlicher hält Wolffsohn den eliminatorischen Antisemitismus des radikalen Islam. Dieser werde von den blutleeren Erinnerungsritualen der bundesdeutschen Gesellschaft überhaupt nicht erreicht. Der Holocaust als negativer Grundstein deutscher Nachkriegsidentität habe für immer größere Teile der Gesellschaft keinerlei Bedeutung mehr, so seine Beobachtung.  

Gleich hinter dieser unmittelbaren Bedrohung sieht Wolffsohn aber die extremistischen Theoretiker und Meinungsmacher von linksextremer Seite, die sich selbst progressiv nennen. Sie bereiteten den Boden vor für das Gedankengut, das antijüdische Übergriffe relativiere und rechtfertige und damit Übergriffe erst recht provoziere. Das staatliche und gesellschaftliche Bewusstsein für die Bedrohung und ideologisch-intellektuelle Gefahr sei aber gleichzeitig im höchsten Maße defizitär.

„„Judenpolitisch ist unsere Wirklichkeit ein Alptraum"“

So schließt Wolffsohn mit einem bitteren Ausblick. Nicht ohne Hoffnung, doch in großer Sorge. Dem Staat ruft er zu, zu seiner Kernaufgabe zurückzukehren und für die Sicherheit aller seiner Bürger zu sorgen. Und der deutschen Gesellschaft hat er eine Botschaft mitgebracht: Wacht auf aus euren Illusionen! Beendet die leeren Rituale und stellt euch schonungslos der Wirklichkeit. „Judenpolitisch“, so schließt das Buch, „ist sie ein Albtraum“.

„Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus“ von Michael Wolffsohn, ist im Herder-Verlag erschienen.

(vatican news – ww)

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26. Februar 2024, 11:19