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Demonstrative Einigkeit nach dem EU-CELAC-Gipfel am Dienstag in Brüssel: Argentiniens Präsident Alberto Angel Fernandez, Premierminister Ralph Gonsalves vom Karibikstaat Saint Vincent und die Grenadinen, EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Demonstrative Einigkeit nach dem EU-CELAC-Gipfel am Dienstag in Brüssel: Argentiniens Präsident Alberto Angel Fernandez, Premierminister Ralph Gonsalves vom Karibikstaat Saint Vincent und die Grenadinen, EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.   (ANSA)

EU-CELAC-Gipfel: Partnerschaft mit Hindernissen

Der EU-CELAC-Gipfel war „wie ein Neuanfang zwischen alten Freunden“, hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen im Nachgang des Treffens gesagt, das am Montag und Dienstag zwischen politischen Vertretern der EU und Ländern Lateinamerikas und der Karibik in Brüssel stattfand. Ob man diese Aussage unterschreiben könne, haben wir Madalena Ramos Görne gefragt. Sie ist Brasilienreferentin beim katholischen Hilfswerk Misereor und war in Brüssel vor Ort.

Christine Seuss - Vatikanstadt

„Freundschaft beinhaltet ja eine Begegnung auf Augenhöhe; dass man die Interessen und die Ausgangslagen der jeweiligen Partner entsprechend berücksichtigt. Und hier müssen wir sagen, dass es durchaus auch eine Fehlanzeige gibt“, zieht Madalena Ramos Görne im Gespräch mit Vatican News kritisch Bilanz. Allerdings könne das Treffen auch in dem Sinne als Erfolg gewertet werden, dass es zumindest eine Annäherung unter den Parteien gab. „Seit dem letzten Gipfel sind acht Jahre vergangen, und das soll jetzt anders werden in Zukunft. Es gab den Beschluss, dass man sich von nun an alle zwei Jahre trifft, und das kann man deuten als eine Investition in diese Freundschaft.“

Allerdings gebe es nach wie vor große Asymmetrien zwischen den jeweiligen Ländern in den einzelnen Blöcken, so dass es ein gewisses Verständnis für die jeweilige Ausgangslage brauche, gibt die Misereor-Referentin zu bedenken.

„Es geht vor allem darum zu verstehen, dass die Länder in Lateinamerika und in der Karibik das große Bedürfnis haben, sich zu industrialisieren. Denn es ist ja bekannt, dass die Wertschöpfungskette von industrialisierten Produkten mehr Gewinn bringt. Und derzeit ist es so, dass die Staaten in Lateinamerika sehr stark auf die Rolle der Rohstofflieferanten reduziert werden. Das ist ein Missverhältnis, das die Länder beheben wollen. Und da hat die EU bislang unzureichende Bemühungen gemacht, diese Interessen zu berücksichtigen.“

45 Milliarden Euro an Investitionen

Im Anschluss an den Gipfel hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen bekannt gegeben, dass die Europäische Union im Zusammenhang mit der EU-LAC Global Gateway Investment Agenda eine Zusage von mehr als 45 Milliarden Euro Investitionen in der Region abgegeben habe. Damit sollten vor Ort lokale Lieferketten geschaffen werden, erklärte von der Leyen.

„Allerdings sind diese Mittel vor allem dazu gedacht, Infrastrukturprojekte zu unterstützen, und das ist durchaus sinnvoll. Aber es gibt auch andere Bereiche, wo eine Unterstützung gefragt ist“, gibt Ramos Görne zu bedenken. Positiv zu vermerken seien jedoch die Fortschritte im Bereich Digitalisierung und Klimawandel:

„Beide Seiten, sowohl die EU als beispielsweise auch die Länder Argentinien und Brasilien bekräftigten, dass sie hier große Fortschritte sahen.“ Luft nach oben gebe es hingegen noch im Bereich der Industrialisierung: ein besonders wichtiger Punkt für die Länder in Lateinamerika. Zwar gab es hier die Einigung, dass ein Teil der Wertschöpfungskette auch vor Ort erfolgen solle, allerdings müsse sich tatsächlich dann auch zeigen, inwiefern diese Absichtserklärungen umgesetzt würden, so Ramos Görne.

Schwierige Verhandlungen um Mercosur-Abkommen

Ein wichtiger Aspekt in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den EU-Ländern und den Ländern Lateinamerikas sei auch das schon seit längerem in Verhandlungen stehende Mercosur-Abkommen, erinnert die Misereor-Expertin. Doch es knirsche momentan noch deutlich zwischen den Verhandlungspartnern EU, Paraguay, Uruguay, Argentinien und Brasilien.

„Es gab ein bilaterales Treffen zwischen Ursula von der Leyen und Brasiliens Präsident Lula am Montag. Und da war es so, dass Lula das Abkommen mit keinem Wort erwähnte, während es für von der Leyen eigentlich wichtig war, die Differenzen, die es derzeit gibt, möglichst schnell aus dem Weg zu räumen. Und hier sieht man bereits, wie unterschiedlich die Positionen sind - wie die Interessen der EU sind, und welchen Stellenwert dieses Abkommen für Brasilien und für die Mercosur-Staaten hat. Es ist zwar ein durchaus relevantes Abkommen, auch für den Mercosur. Allerdings werden noch große Unterschiede debattiert, zum Beispiel bei Zusatzerklärung für mehr Umweltschutz.“

Vorbehalte aus der Zivilgesellschaft

Einen Vorschlag der EU-Kommission hatte Brasiliens Präsident Lula als inakzeptabel bezeichnet und daraufhin einen Gegenentwurf erstellt, der momentan unter den Mercosur-Staaten beraten wird. Wichtige Details aus dem Gegenentwurf sind jedoch noch nicht bekannt. Und diese Intransparenz stelle generell ein besonders großes Problem dieses geplanten Abkommens dar, so Ramos Görne mit Blick auf die kritischen Stimmen aus Politik und Gesellschaft:

„Es gibt Vorbehalte verschiedener Art. Das fängt damit an, dass der gesamte Verhandlungsprozess sehr intransparent gestaltet wurde. Es ist so, dass die Zivilgesellschaft und die betroffenen Bevölkerungsgruppen, die Gruppen, die vom Abkommen betroffen wären, überhaupt nicht einbezogen wurden. Viele Teile des Vertragstextes sind nicht öffentlich zugänglich und somit ist es für die Menschen vor Ort sehr schwer einzuschätzen, welche Risiken und Chancen dieses Abkommen für sie bringen würde. Außerdem ist es so, dass dort auch das Thema der Industrialisierung absolut mangelhaft angegangen wird. Für Lula ist es erklärtes Ziel, sein Land stärker zu industrialisieren und die Wertschöpfungskette innerhalb seines Landes auszubauen. Aber das Abkommen verdammt die Mercosur-Länder sozusagen dazu, die Rohstoffe zu exportieren und industrialisierte Produkte aus Europa anzunehmen. Und das nennen wir ,neokoloniale Arbeitsteilung'. Und diese sollte eigentlich überwunden werden, wenn wir von einem modernen Abkommen sprechen.“

Neokoloniale Arbeitsteilung

Darüber hinaus gebe es Probleme im Bereich der Menschenrechte und des Umweltschutzes, die in dem Abkommen völlig unzureichend berücksichtigt werden, so Ramos Görne. Auch Misereor hatte hier Verbesserungen angemahnt. Doch auch wenn es derzeit nicht klar sei, wann das Abkommen unterzeichnet werden könne, sei nicht damit zu rechnen, dass es einfach in der Schublade verschwinde:

„Es wird weiterhin verhandelt und es gibt auf beiden Seiten auch das Interesse, es zu verabschieden. In Europa wären vor allem die Automobil- und die Chemiebranche die Hauptprofiteure des Abkommens. Wenn die intendierte Ausweitung von Auto- und Pestizidexporten in den Mercosur tatsächlich umgesetzt würde, wäre das Risiko einer Verschärfung der Menschenrechtsverletzungen und der Umweltzerstörung hoch. Leidtragende wären nicht zuletzt indigene Völker, die wertvolle Waldflächen besiedeln und zum Erhalt der Biodiversität beitragen. Allerdings ist der Weg hin zu einer Verabschiedung noch lang, weil die Auseinandersetzungen einfach noch zu stark sind und die Länder bei vielen Punkten zu weit auseinander liegen. Es bleibt abzuwarten, ob das noch bis Ende des Jahres dann tatsächlich stattfinden wird. Allerdings muss man ja auch noch bedenken, dass nächstes Jahr die Wahlen im EU-Parlament stattfinden werden, und das wird ein spannender Prozess sein. Es kann auch einen Wechsel in der EU-Kommission geben - und all das kann auch die weiteren Entwicklungen beeinflussen.“

Denn selbst innerhalb der EU gebe es durchaus kritische Stimmen, zum Beispiel innerhalb Österreichs oder Frankreichs, ebenso wie seitens landwirtschaftlicher Organisationen innerhalb der EU. Insgesamt gebe es noch viele Vorbehalte auszuräumen, zeigt sich Ramos Görne überzeugt.

„Die Sache ist, dass es für die Länder des Mercosur sehr wichtig ist, die Industrialisierung in ihren Ländern voranzutreiben und Arbeitsplätze auch zu schaffen. Es gibt Studien, die besagen, dass Arbeitsplätze in den Mercosur-Ländern auf jeden Fall gefährdet werden würden, was nicht im Interesse dieser Länder sein kann. Was die Rohstofflieferung betrifft: das ist ein Part, den die Mercosur-Länder auch weiterhin übernehmen werden, wahrscheinlich aber nicht in dem Ausmaß wie in dem Abkommen vorgesehen. Für die Zivilgesellschaft darf der Rohstoffabbau zudem nicht mit schweren Katastrophen einhergehen, wie der Dammbruch in einer Eisenerzmine in Brumadinho 2019, noch auf Kosten der Umwelt und der menschlichen Gesundheit geschehen.“

Die Beziehungen zu China

Doch während die EU und die Mercosur-Länder um das Abkommen ringen, nehmen die Handelsbeziehungen zwischen letzteren und China stetig zu. Nicht verwunderlich, meint die Expertin: „Es ist zwar so, dass das Thema Menschenrechte in den Handelsbeziehungen zwischen China und Lateinamerika nicht immer die größte Rolle spielt. Allerdings ist es so, dass China und Lateinamerika durchaus eine gemeinsame Geschichte haben. Eine Geschichte, die nicht immer durch Gerechtigkeit in Bezug auf den Beziehungen mit der EU und mit Europa gekennzeichnet war, und wo vielleicht eher ein gegenseitiges Verständnis für die jeweilige Ausgangslage und Interessen auf den beiden Blöcken besteht.“

Eine komplizierte Ausgangslage also für die geplante „verstärkte Partnerschaft mit Lateinamerika und der Karibik bis 2027“, wie sie sich Ursula von der Leyen für „Team Europe“ wünscht – und die vorläufig mit 45 Milliarden Euro Investitionen angekurbelt werden soll.

(vaticannews - cs)

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19. Juli 2023, 15:50