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Ukraine: Unten die Flut, oben die Raketen

Die verheerende Flut nach dem Bruch eines Staudamms im Süden der Ukraine wird, was die humanitäre Katastrophe betrifft, schon mit dem Atomunglück von Tschernobyl verglichen. Unser Interview zur Lage im Krisengebiet.

„Die Russen legen es darauf an, das ukrainische Volk zu vernichten.“ Das sagt Pater Peter Rosochacki gegenüber Radio Vatikan. Er leitet die Caritas Spes in Odessa, die in den am stärksten betroffenen Gebieten Hilfe leistet. Und er hat keinen Zweifel daran, dass die furchtbare Überschwemmung von Russland ausgelöst wurde.

Beata Zajączkowska und Stefan v. Kempis - Vatikan

„Es ist kaum zu glauben, dass sie absichtlich einen Damm gesprengt haben, um solche katastrophalen Überschwemmungen zu verursachen. Aber der wahre Horror ist, dass sie Freiwilligen-Teams beschießen, während diese die Betroffenen evakuieren.“ Der aus Polen stammende Priester betont, dass die Ukraine mit einer schweren Naturkatastrophe konfrontiert ist und unbedingt Unterstützung benötigt.

Schwere Anschuldigungen gegen Russland

Rosochacki arbeitet seit 2007 schwerpunktmäßig in der Hilfe für die Ukraine. Zunächst war er in Simferopol tätig, musste aber 2015, ein Jahr nach der russischen Annexion, die Krim verlassen. „Wie Millionen von Menschen bin auch ich ein Binnenflüchtling“, sagt Pater Rosochacki. Er berichtet, dass Caritas-Freiwillige direkt seit dem Beginn der Katastrophe an vorderster Front im Einsatz sind und bei der Evakuierung der überfluteten Dörfer in Cherson und Umgebung helfen.

„Wir haben mit der Evakuierung begonnen, als das Wasser die Stadt Cherson noch nicht überflutet hatte. Wir haben die Menschen gedrängt, ihre Häuser zu verlassen. Alle hofften, dass das Wasser sie nicht erreichen würde. Leider kam das Wasser aber doch nach ein paar Stunden und überschwemmte etwa 30 Prozent der Stadt. Natürlich hat die Flut auch die umliegenden Dörfer nicht verschont. Die Menschen versuchen, per Boot zu evakuieren; es gibt Freiwillige und staatliche Stellen, die bei der Evakuierung helfen. Leider findet die Evakuierung unter regelmäßigem und sehr schwerem Beschuss durch die russische Armee statt. Das macht sie sehr schwierig.“

Interview über die Flutkatastrophe im Süden der Ukraine - von Radio Vatikan

Zoo und Friedhöfe überschwemmt

Eine weitere Schwierigkeit bestehe darin, dass sehr viele Tiere aus dem Zoo in Nowaja Kachowka überschwemmt und getötet worden seien. Abgesehen von den Vögeln und Tieren, die schwimmen können, seien alle anderen ertrunken. Und mit der Strömung des Flusses seien auch Friedhöfe überflutet worden.

„Außerdem sind viele Erdölprodukte in den Fluss ausgelaufen. Wir befürchten also, dass uns eine massive biologische Katastrophe bevorsteht.“

Die Menschen auf der anderen Seite des Flusses

Auf der rechten Seite des Dnjepr, d. h. auf der von den russischen Truppen befreiten ukrainischen Seite, ist die humanitäre Hilfe nach Rosochackis Angaben angelaufen.

„Aber es leben auch viele Menschen auf der anderen Seite des Flusses, wo russische Truppen stationiert sind. Dort gibt es keine Evakuierung; außerdem werden Menschen, die versuchen, auf eigene Faust zu evakuieren, blockiert. Die russischen Truppen erlauben ihnen nicht, das Gebiet zu verlassen. Und was vielleicht am tragischsten ist, das ist das Los der alten und kranken Menschen, die an ihre Betten gefesselt sind. Jetzt muss man wohl sagen 'waren', denn sie sind einfach in ihren eigenen Wohnungen ertrunken. Wir wissen bis heute von mehreren bestätigten Todesopfern. Aber das ist erst der Anfang der Zählung der Menschen, die ertrunken sind.“

Die Not ist groß

Von ukrainischer Seite, vom rechten Ufer aus, wird nach Angaben des Priesters versucht, mit Drohnen Lebensmittel und Wasser in die von Russland kontrollierten Gebiete zu bringen, weil die Menschen dort auf den Dächern sitzen und um Hilfe schreien. Als es noch telefonischen Kontakt zu diesen Menschen gab, hätten sie dringend um Rettung gebeten, doch mittlerweile sei dieser Kontakt völlig abgebrochen. Weder die russischen noch die ukrainischen Telefonnummern funktionieren noch.

„Die Not ist also groß, und es wird tatsächlich alles gebraucht. An erster Stelle steht der Bedarf an Trinkwasser. Das ist ausgesprochen wichtig, denn die Brunnen sind überflutet und können nicht genutzt werden. Auch die Wasserleitungen sind beschädigt, und das verfügbare Wasser ist bereits verunreinigt und nicht trinkbar. Wasser ist also die erste Herausforderung, denn wir haben derzeit Temperaturen von 29-30 Grad im Schatten. Und wenn jemand auf einem Dach sitzt, wie auf der russischen Seite, dann wissen wir, dass er natürlich noch mehr unter der Hitze leidet. Wir brauchen also vor allem Wasser, Lebensmittel, Hygieneartikel, aber auch Kleidung und Decken. Viele Menschen haben ihre Häuser nur mit ein paar Papieren in der Hand verlassen…“

Häuser, Matrazen, Waschmaschinen im Wasser

Das Ausmaß des Desasters sei schwer zu beschreiben, sagt der Priester. Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie schwimmende Häuser von der Flut weggespült und Matratzen, Sofas und Waschmaschinen vom Wasser mitgerissen wurden.

„Heute war ich in Nikolajew, 60 km von Cherson entfernt, dort steigt die Flutwelle weiter an. Wir haben den Notstand ausgerufen; hoffen wir, dass die Deiche dort nicht brechen und nicht noch eine Stadt überschwemmt wird. Hoffen wir, dass das Wasser nur zurückgeht…“

Jede Hilfe wird gebraucht

Wenn das Wasser erst einmal zurückgehe, stehe die Ukraine vor großen Aufräumarbeiten. „Wir brauchen jede Unterstützung, die wir bekommen können, vor allem in finanzieller Hinsicht, denn wir können viele Dinge vor Ort kaufen“, so der Leiter von Caritas Spes in Odessa.

„Inzwischen funktionieren die Geschäfte in Odessa und den umliegenden Städten wieder normal. Es sind Lebensmittel und Wasser verfügbar. Wir kaufen also vor Ort Waren ein, die wir an die Menschen weitergeben, damit sie so schnell wie möglich helfen können… Die Menschen wollen in ihre Häuser zurückkehren, sie sind sich bewusst, dass es noch mehr Zerstörung geben wird, wenn sie sie verlassen.“

Der Priester glaubt, dass das kein Unfall war

Der ukrainische Präsident habe schon im Oktober 2022 von der Gefahr eines Dammbruchs gesprochen, sagt Rosochacki. „Vor sechs Monaten hatten die Russen bereits Sprengladungen an diesem Damm angebracht, die Gefahr bestand also schon lange. Aber ich glaube, niemand von uns hat sich den Gedanken erlaubt, dass jemand eine solche Entscheidung treffen könnte, diesen Damm doch noch einzureißen. Und leider müssen wir feststellen, dass doch solche Entscheidungen getroffen worden sind. Wir sind davon überzeugt, dass es kein Unfall war, dass es eine bewusste Handlung war, die dazu geführt hat, dass Hunderttausende von Menschen evakuiert werden mussten… Es handelt sich also um eine bewusste Aktion zur Zerstörung des ukrainischen Volkes.“

Die Russen hielten sich nicht an die humanitären Regeln, die während bewaffneter Konflikte gälten, urteilt der Priester. Freiwillige Helfer und Dienste, die den Bedürftigen Hilfe bringen, seien immer gut und sichtbar gekennzeichnet, trotzdem würden sie von den russischen Aggressoren absichtlich beschossen.

Freiwillige Helfer unter Beschuss

„Wir sind immer gut erkennbar als Freiwillige, als humanitäre Hilfe. Wir geben immer an, dass wir humanitäre Hilfe leisten, das heißt, wir sind neutral. Wie kann man also auf Menschen schießen, die anderen Menschen helfen! … Was wir erleben, ist unfassbar, und wir sehen es jeden Tag mit eigenen Augen.“

Der Priester bittet um Gebete – und darum, dass die Ukraine nicht vergessen wird.

„Leider stelle ich fest, dass sich die Menschen an den Krieg gewöhnt haben, nicht nur in Europa, sondern auch in unserem Land. Irgendwann haben wir uns daran gewöhnt - und nun hat uns diese Tragödie am Staudamm ein neues Gesicht dieses Krieges gezeigt, sie hat uns gezeigt, dass es noch schlimmer kommen kann. Also eine große Bitte um Gebet, um geistliche Unterstützung; eine Bitte, dass die Welt nicht vergisst, dass in der Ukraine ein Krieg herrscht, dass in der Ukraine jeden Tag Menschen sterben, dass jeden Tag Kinder sterben.“

(vatican news – sk)
 

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09. Juni 2023, 16:36