Suche

Die gotische Fassade der Johannes-Kathedrale von Warschau (rechts) Die gotische Fassade der Johannes-Kathedrale von Warschau (rechts)

Radio-Akademie: Polen – Kirche im Umbruch (2)

Unsere neue Sendereihe führt uns nach Polen, in das katholischste Land Europas. Unser Nachbar – und doch so anders. Wir wollen die Menschen und die Kirche in Polen kennenlernen, etwas über ihre Geschichte erfahren. Sehen, wie sie mit den Herausforderungen der Neuzeit umgehen.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

In der zweiten Folge unserer Reihe besuchen wir Warschau. Große Teile der Hauptstadt wurden im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Besatzern dem Erdboden gleichgemacht. Nach dem Krieg erstanden die schönsten Bauten wieder – man spricht von der „jüngsten Altstadt Europas“. Doch wer aufmerksam durch die Straßen geht, stößt überall noch auf die Narben der Geschichte.

Der Umgang mit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist bis heute ein heißes Eisen in der polnischen Gesellschaft. Dabei sind die Gräben zwischen den Lagern tief und der Streit sehr erbittert, erst recht angesichts der für den Herbst 2023 angesetzten Wahlen. Nicht selten mengen sich populistische Töne in die Debatte. Polen sucht seinen Weg im heutigen Europa; einfach ist das nicht.

Unser Autor in der Altstadt von Warschau
Unser Autor in der Altstadt von Warschau

„Der Krieg ist für uns weiter lebendig“

„Für uns Polen ist der Zweite Weltkrieg weiter lebendig“, sagt uns der Historiker Jan Żaryn. „Nicht nur für meine Generation, sondern auch für die Generation meiner Kinder, meiner Enkelkinder. Denn wohl jede polnische Familie war von den Folgen des Zweiten Weltkriegs in der einen oder anderen Weise betroffen … Es gibt keine Familie in Polen, die nicht über ihre Geschichte in dieser Zeit Bescheid weiß.“

Das Museum des Warschauer Aufstands erinnert an die Zerstörung der Hauptstadt durch die deutschen Besatzer
Das Museum des Warschauer Aufstands erinnert an die Zerstörung der Hauptstadt durch die deutschen Besatzer

Der Westen als Imperialist der Menschenrechte

Żaryn, der auch einige Jahre dem polnischen Senat angehörte, ist Spezialist für die Fährnisse der polnischen Kirche im 20. Jahrhundert – und ein Mann, der gern pointiert formuliert. In seiner Heimat verknüpfen sich mehrere Kontroversen mit seinem Namen. Doch hat seine Scharfzüngigkeit den Vorteil, dass Streitiges Tiefenschärfe gewinnt, statt im Ungefähren zu bleiben.

Warum ist Polen so katholisch? Ein Gespräch von Radio Vatikan mit dem Warschauer Historiker Jan Zaryn - aus der Serie "Polen - Kirche im Umbruch"

Aus Żaryns Sicht hat „nicht der Staat, sondern die christliche Kultur das moderne Polen geschaffen“; im Abwehrkampf gegen preußisch-deutschen und russischen Imperialismus habe sich die polnische Mentalität „eng mit dem Katholizismus verbunden“. Doch in einer von Deutschland dominierten Europäischen Union drohe Polen Gefahr. Ausgerechnet „der Westen, von dem wir die Definition von Freiheit und Menschenrechten übernommen haben“, werde immer mehr zu einem „Menschenrechts-Imperialisten“: „Das wirkt zerstörerisch auf unsere Kultur, unsere nationale Identität“.

Scharfzüngig: Der Historiker Jan Zaryn
Scharfzüngig: Der Historiker Jan Zaryn

Der Professor glaubt, dass viele Polen den Westen idealisierten und dessen Vorstellungen ungeprüft übernähmen, etwa die Rechte von Homosexuellen oder das Recht auf Abtreibung. Dass dies in Konflikt mit einer eng an den Katholizismus angelehnten Kultur geraten müsse, sei eigentlich vorprogrammiert.

„Heftiger Kulturkampf“

„Leider stehen junge Polen heute vor der Wahl, ob sie Polen sein wollen oder Europäer – und dann entscheiden sie sich dafür, Europäer zu sein!“ Die Folge sei ein heftiger Kulturkampf. Hier ordnet Żaryn auch die jüngsten Auseinandersetzungen über den polnischen Papst Johannes Paul II. ein. Die politische und intellektuelle Linke habe „das neue Gesicht Johannes Pauls“ geschaffen, nicht mehr als Heiliger werde er gezeichnet, sondern als Krimineller. „Als Historiker wissen wir natürlich, dass das nicht stimmt… Aber der Kampf gegen Johannes Paul II., das ist der Kampf gegen die Autorität des Katholizismus in Europa.“

Nach dem Krieg originalgetreu wieder aufgebaut: Alter Marktplatz von Warschau
Nach dem Krieg originalgetreu wieder aufgebaut: Alter Marktplatz von Warschau

„Wir wollen Polen sein“

Immerhin hätten viele Polen mit Demonstrationszügen Anfang April in mehreren Städten des Landes gezeigt, dass sie sich gegen das verzerrte Bild des polnischen Papstes wehrten. Ihre Botschaft sei gewesen: „Wir wollen Polen sein – also Menschen, die mit dieser katholischen Zivilisation der polnischen Nation verbunden sind“.

Żaryn weiß, dass bei weitem nicht alle Polen so denken. Das hat auch eine Massendemonstration der Oppositionsparteien vor einer Woche im Zentrum von Warschau klargemacht; sie wurde angeführt vom früheren Ministerpräsidenten Donald Tusk, der bei den Wahlen im Herbst die Rechtsregierung der PiS ablösen will. Doch der Historiker beklagt die Zerreißprobe – für die Menschen und für das ganze Land. Der jungen Generation gönnt er den Platz in Europa, doch Geschichtsvergessenheit stimmt ihn misstrauisch. Er glaubt, dass Polen sie sich nicht leisten kann. 

Speziell den Deutschen traut der Historiker, dessen Mutter in einem KZ inhaftiert war und dessen Vater für den polnischen Untergrund arbeitete, noch heute nicht über den Weg. „Viele Polen – nicht nur ich – sehen Deutschland heute noch als gewissermaßen imperialistischen Staat… Wir sehen, dass ihr Deutsche in der Geschichte und heute noch sehr gefährlich seid für die Polen. Das ist keine freundschaftliche Beziehung.“

Dieses Warschauer Gebäude zeigt noch die Spuren der Kämpfe des Zweiten Weltkriegs
Dieses Warschauer Gebäude zeigt noch die Spuren der Kämpfe des Zweiten Weltkriegs

„Verstehen die Deutschen unsere Situation? Nein!“

Żaryn fordert die Deutschen zu besonderer „Sensibilität“ gegenüber Polen auf. Das gelte gerade mit Blick auf die EU. „Deutschland ist ein großer Player in der EU und sagt gerne mal: Wir wissen, wie wir uns da zu bewegen haben, wir sind in der Mehrheit, und wir sind gut auf die Führung in der EU vorbereitet. Aus polnischer Sicht ist das ein imperialistisches Auftreten. Verstehen die Deutschen unsere Situation? Nach heutigem Stand muss ich da antworten: Nein!“

Die Deutschen wollen Polen nicht verstehen, so scharf drückt es der Warschauer Historiker aus. „Sie sagen die ganze Zeit: Die Nazis waren ja nicht die Deutschen. Aber das stimmt nicht! Für die Polen gab es im Zweiten Weltkrieg keine Nazis – es waren die Deutschen, die die Polen (und natürlich auch die Juden) töten wollten. Damals standen sich Deutsche und Polen gegenüber, nicht Nazis und Polen!“

Warschauer Neustadt
Warschauer Neustadt

„Geschichte, die sich wiederholt“

Żaryn verteidigt die Forderungen aus der polnischen Rechtsregierung nach Reparationszahlungen aus Deutschland. In Berlin hat man sie eher als Teil des Wahlkampfs, also als innenpolitisches polnisches Manöver wahrgenommen und setzt darauf, dass sich das nach einem möglichen Regierungswechsel im Herbst von selbst erledigt haben wird. Doch der entsprechende Bericht sei nicht von Politikern verfasst worden, sondern von Wissenschaftlern, sagt Żaryn. „Und wir als Polen wollen die Deutschen fragen: Meint ihr es ernst mit einer Freundschaft zwischen unseren beiden Nationen, ja oder nein? Oder ist das nur Werbung? Es hängt von Deutschland ab, wie Polen auf die Beziehungen zu den Deutschen schauen. Wollt ihr da etwas tun? Ihr Deutsche habt die Wahl.“

Auch der polnische Blick auf Russland sei im übrigen von den leidvollen historischen Erfahrungen bestimmt: Hinter Putins Zügen nähmen viele die Fratze Stalins wahr, der russische Imperialismus erhebe wieder mal sein Haupt. „Auch Russland will ein neues Europa schaffen, in dem kein Platz für ein unabhängiges Polen ist. Das ist für uns eine Geschichte, die sich wiederholt.“

Auch der Wiederaufbau dieser Warschauer Kirche orientierte sich an historischen Gemälden
Auch der Wiederaufbau dieser Warschauer Kirche orientierte sich an historischen Gemälden

Bestellen Sie unsere CD

Sie können sämtliche Folgen der Sendereihe gesammelt auf CD bestellen. Bestellungen bitte an cd@vaticannews.de; unser Freundeskreis von Radio Vatikan versendet aus Deutschland – und freut sich natürlich über Spenden, mit denen die Arbeit unserer Redaktion unterstützt werden kann.

(vatican news)

Eine Aufnahme Warschaus nach seiner Zerstörung durch die deutschen Besatzer
Eine Aufnahme Warschaus nach seiner Zerstörung durch die deutschen Besatzer

 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

11. Juni 2023, 10:42