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60 Jahre Konzil: Fragen an einen der letzten lebenden Teilnehmer

Er ist der einzige italienische Konzilsvater, der noch lebt: Luigi Bettazzi, emeritierter Bischof von Ivrea. Im November wird er 99 Jahre alt. Ab Ende September 1963, also ab der zweiten Sitzungsperiode, war Bettazzi (damals Weihbischof von Bologna) Teilnehmer des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Eine Revolution war das, was vor genau sechzig Jahren – am 11. Oktober 1962 – im Petersdom begann, für ihn nicht. „Eine Revolution würde bedeuten, alles zu verändern“, so Bettazzi im Interview mit Radio Vatikan. „In der Kirche ist es immer eine Entwicklung… aber es war eine starke Entwicklung. Papst Johannes sagte zu Beginn des Konzils: ‚Wir wollen die Wahrheiten des Glaubens nicht verändern. Wir sind es, die sich verändern, indem wir sie besser verstehen und umsetzen‘.

‚Umsetzen‘ ist das Stichwort: Papst Franziskus hat vor ein paar Tagen geurteilt, das Konzil sei noch nicht vollständig verstanden, gelebt und umgesetzt worden. Bischof Bettazzi verweist, wenn man ihn danach fragt, auf die Grundlagentexte des Konzils, die sogenannten Konstitutionen.

Die Einberufungs-Bulle des Konzils, heute im Vatikan-Archiv
Die Einberufungs-Bulle des Konzils, heute im Vatikan-Archiv

„Starke Entwicklung“ in der Liturgie

„Die vier Konstitutionen zeigen, was sich entwickelt hat und was nicht. Zum Beispiel die erste über das Wort Gottes (Dei Verbum): Sicher, früher hat man die Bibel nicht gelesen, sie war fast verboten, damit die Leute nicht sozusagen protestantisch wurden, während sie jetzt in jedermanns Hand ist. Dennoch zögern die Menschen noch, sie wirklich zum Ausgangspunkt christlichen Verständnisses und Handelns zu machen. Dann die Liturgie (Sacrosanctum Concilium): Natürlich hat es da eine starke Entwicklung gegeben; aber es gibt immer noch ein Zögern und ein Bedauern bezüglich der Liturgie der Vergangenheit, die vielen frommer und heiliger gewesen zu sein schien.“

Innerkirchlich war wohl die Liturgiereform die einschneidendste Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils; hier verlaufen tatsächlich heute noch tiefe Gräben. Das hat sich vor allem mit Blick auf den sogenannten ‚alten Ritus‘ der römischen Messfeier gezeigt, der von Benedikt XVI. rehabilitiert, von Franziskus hingegen strikten Auflagen unterworfen wurde.

Bettazzi (rechts) auf dem Konzil mit dem Erzbischof von Westminster
Bettazzi (rechts) auf dem Konzil mit dem Erzbischof von Westminster
Einer der letzten lebenden Konzilsväter erinnert sich - Interview von Radio Vatikan

„Die frühere Messe war klerikaler“

„Was wir brauchen, ist ein echtes Verständnis dafür, dass Tradition nicht bedeutet, alles so zu machen, wie es in der Vergangenheit gemacht wurde. ‚Tradere‘ heißt auf Lateinisch ‚weitergeben‘: Tradition bedeutet dementsprechend, wie Papst Johannes sagte, die Wahrheiten zu bewahren, aber zu versuchen, sie zu verstehen und besser umzusetzen. Was die Liturgie betrifft, so ist der Wunsch nach einer Rückkehr zum Alten groß – aber die frühere Messe war klerikaler und wurde ganz auf Latein abgehalten. Wir müssen also darauf bestehen, dass dieser ältere Ritus nur noch eine große Ausnahme sein darf. Die Messe muss eine partizipatorische sein, nicht eine, bei der man nur zuhört - wie wenn man ins Theater geht.“

Jeder Getaufte ist Kirche

Aber Bettazzi ist noch nicht fertig mit seiner ‚Tour d’horizon‘ durch die vier Konstitutionen des Konzils. „Über die Kirche (Lumen Gentium): Die Kirche ist revolutioniert worden. Man sieht sie nicht mehr als die perfekte Gesellschaft mit der Hierarchie und darunter die Laien, sondern als das Volk Gottes; jeder Getaufte ist Kirche! Die Hierarchie ist weiter vorhanden, aber im Dienst am Volk Gottes, an den Christen. Allerdings gibt es immer noch viel Klerikalismus.“

Die Eröffnung des Konzils vor 60 Jahren in St. Peter
Die Eröffnung des Konzils vor 60 Jahren in St. Peter

Die einzige Exkommunikation des Konzils

Und schließlich: Gaudium et Spes, der Konzilstext über die Kirche in der Welt von heute. Bischof Bettazzi weist darauf hin, dass das Konzil hier seine einzige Exkommunikation ausgesprochen habe, nämlich die gegen den „totalen Krieg, der die gesamte Zivilbevölkerung betrifft“. Hier, im Verhältnis der Kirche zur Welt, habe sich einiges getan; die Kirche sei heute immer mehr eine, „die für alle fühlt und die für den Frieden eintritt“.

Der 98-Jährige gehört zu den Erstunterzeichnern des ‚Katakomben-Pakts‘ für eine Kirche der Armen, den Konzilsteilnehmer 1965 von den römischen Domitilla-Katakomben aus lanciert haben.

Bischof Bettazzi
Bischof Bettazzi

Erinnerung an den Katakomben-Pakt

„Es handelte sich ursprünglich um ein gelegentliches Treffen; wir waren 42 Personen in den Katakomben, ich war der einzige Italiener, aber dann haben wir andere dazu gebracht, zu unterschreiben, und 500 Unterschriften von Bischöfen gingen an den Papst. Es wären vielleicht noch mehr gewesen, wenn wir uns weiter darum hätten… Das Wichtigste ist die Sorge um die Armen, und es wurde betont, dass der Bischof einfacher leben muss, was Wohnung und Transportmittel angeht. Aber er muss vor allem den Armen und den Arbeitern, den Leidenden und den Notleidenden nahe sein, entgegen der Tendenz, die wir haben, uns an die Reichen und Mächtigen zu halten…“

12 Punkte hat dieser ‚Katakomben-Pakt‘. Frage an Bischof Bettazzi: Wie viel davon finden Sie im Pontifikat von Papst Franziskus wieder?

„Die Aufmerksamkeit für die Armen, für die Ausgestoßenen, wie er sagt – das ist die Verwirklichung der Kirche der Armen, von der auf dem Konzil gesprochen wurde. Paul VI. zögerte in dieser Hinsicht, da er befürchtete, dass dies in Zeiten des Kalten Krieges zu politisch wirken könnte, und sagte: Ich werde stattdessen über die Kirche der Armen sprechen. Dann hat er 1967 die Enzyklika Populorum progressio verfasst, die allerdings eher eine Enzyklika für den Frieden als für die Armen ist…“

Laien stärker einbeziehen - durch „ehrliche Synoden“

Sehr wichtig ist aus Bischof Bettazzis Sicht die stärkere Betonung von Synodalität: Wenn man die Laien mehr einbeziehen wolle – und das müsse man tun –, dann gehe das nur über, wie er formuliert, „ehrliche Synoden“.

„Zu oft machen wir es hierarchisch… Dabei sät der Heilige Geist die großen Dinge in das Volk Gottes. Orden wurden nicht von Kardinälen gegründet, und Bewegungen wurden auch nicht von Frauen wie Chiara Lubich erfunden. Das heißt: Wir sollten wirklich davon überzeugt sein, dass der Heilige Geist in der ganzen Kirche weht und dass die Hierarchie zwar koordinieren und garantieren muss, dass es aber wichtig sein wird, zu hören und dann zu erfassen, was der Heilige Geist in das Volk Gottes gesät hat.“

(vatican news – sk)

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11. Oktober 2022, 12:00