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Viele Flüchtende bleiben in der Ukraine und müssen versorgt werden Viele Flüchtende bleiben in der Ukraine und müssen versorgt werden 

Ukraine: Die Binnenflüchtlinge nicht vergessen

Den Blick auf die Menschen zu lenken, die trotz des Krieges geblieben und womöglich aus dem Osten in halbwegs sichere Gegenden der Ukraine geflüchtet sind – das war eines der Hauptanliegen einer Solidaritätsreise, die das katholische Hilfswerk missio Österreich in den Westen des Landes unternommen hat. Wir sprachen mit Christoph Lehermayr von missio.

Sein Team war von Uschhorod über die Karpaten bis nach Lviv gereist, also ins Zentrum des ehemaligen Galiziens und der heutigen Westukraine. Dort seien die Anstrengungen der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche für die zahlreichen Schutzsuchenden enorm, berichtet Lehermayr, der in Wien leitender Redakteur des missio-Magazins „allewelt“ ist. Wir fragten ihn, was er für eine Situation auf seiner Reise vorgefunden hat.

Hier das Gespräch mit Christoph Lehermayr zum Nachhören

Christoph Lehermayr: Ja, das ist sehr sonderbar, diese Gleichzeitigkeit von Normalität und Krieg. Es ist ja eine Region, die nicht direkt unmittelbar von Zerstörung betroffen ist, aber zugleich natürlich auch Teil des Krieges ist. Das merkt man sofort. Da sind überall Armee, Checkpoints, Benzin ist rationiert… Vor den vor den Tankstellen bilden sich unglaublich lange Schlangen, auch von drei bis vier Stunden. Und selbst im Westen der Ukraine gibt es immer wieder Raketenalarm und Sirenen. Und das ist dann schon ein sehr mulmiges Gefühl. Russland nimmt immer wieder Ziele ins Visier, wobei man nicht genau weiß, ob das nur militärische Ziele sind. Und wir haben einen solchen Sirenenalarm selbst mehrmals erlebt, was einem dann nochmal ganz klar verdeutlicht, selbst dort im Westen der Ukraine befindet man sich in einem Land, das im Krieg steht.

Christoph Lehermayr und der Caritas-Direktor von Sambir-Drohobytsch, Ihor Kazankevych
Christoph Lehermayr und der Caritas-Direktor von Sambir-Drohobytsch, Ihor Kazankevych

Radio Vatikan: Innerhalb und außerhalb der Ukraine ist ja auch eine riesige Solidaritätswelle entstanden. Was hat sie denn in den Erzählungen - oder was Sie selbst gesehen haben - besonders beeindruckt vor Ort?

Christoph Lehermayr: Also zum einen einmal die unglaublich große Dankbarkeit unserer Partner. Da ist die ukrainische griechisch-katholische Kirche, die Unfassbares leistet. Man muss sich das vor Augen führen, auch wenn es in unserer Wahrnehmung so wirkt, als wären so viele Ukrainer ins Ausland geflohen – was sicher zutrifft - aber die noch weit größere Zahl, nämlich an die 6 Millionen Menschen, sind innerhalb des Landes geflohen. Das sind Binnenflüchtlinge, die aus den Gebieten, die im Osten des Landes unmittelbar vom Krieg betroffen sind, in den Westen geflohen sind. Und wir haben dann einfach gesehen, welch unersetzliche Rolle die griechisch-katholische Kirche bei deren Versorgung spielt. Also ohne deren Kräfte würde das völlig zusammenbrechen. Menschen sind von kleineren Unterkünften bis zu großen Sporthallen untergebracht, das sind Mütter mit ihren Kindern, die wirklich Schreckliches erlebt haben. All diese Geschichten, die wir gehört haben, von belagerten Städten und Dörfern, einem Leben ohne Strom, Gas und Wasser, der Gefahr des Beschusses…

„Das sind Mütter mit ihren Kindern, die wirklich Schreckliches erlebt haben“

Wir haben eine Frau gesprochen aus Mariupol, die lange gar nicht mehr geglaubt hat, dass sie überhaupt noch mit den Kindern rauskommt. Und diese Schicksale gibt es zuhauf. Und diese Menschen sind jetzt mal in Sicherheit, aber auch in einer trügerischen Sicherheit. Und es ist einfach total schön zu sehen, wie gut sie, wie gut sie versorgt werden. Und dann ist da noch die große Dankbarkeit unserer Partner dort für unseren Besuch. Wir waren in vielen Diözesen die ersten Besucher aus dem Ausland seit Beginn des Krieges. Und das ist dann doch noch mal ein ganz anderes Zeichen von Solidarität, wie sie uns auch gesagt haben. Einfach dieses persönliche Kommen, der persönliche Austausch. Da war sehr viel Dankbarkeit zu spüren, die wiederum uns und mich auch ganz besonders berührt hat.

Im Luftschutzbunker einer Notunterkunft (rechts der Weihbischof von Lviv, Wolodymyr Hruya)
Im Luftschutzbunker einer Notunterkunft (rechts der Weihbischof von Lviv, Wolodymyr Hruya)

Radio Vatikan: Ja, der Krieg dauert ja leider immer noch an und täglich kommen neue Schäden dazu. Wie kann man denn da eventuell schon an Aufbau denken? Oder steht das momentan noch ganz hinten an?

Christoph Lehermayr: Im Westen der Ukraine halten sich die Schäden ja Gott sei Dank in Grenzen. Die Russen haben dort militärische Ziele ins Visier genommen und es geht dort viel mehr darum, dass einfach Kapazitäten geschaffen werden müssen für die weitere Versorgung der Menschen. Man muss sich das vorstellen, mit den sechs Millionen Menschen, die quasi vom Osten in den Westen geflohen sind. Da braucht es Wohnungen, da braucht es Unterkünfte, und viele richten sich natürlich darauf ein, dort länger zu bleiben.

Wir haben mit vielen Menschen gesprochen, die sagen, ich kann dorthin nicht mehr zurück. Es gibt mein Haus nicht mehr, es gibt meine Wohnung nicht mehr. Vieles wurde zerstört. Viele haben auch Angst vor einer Rückkehr, selbst in Gebiete, aus denen die Russen bereits wieder abgezogen sind. Das heißt im Westen der Ukraine müssen diese Versorgungsmöglichkeiten und auch diese Wohnmöglichkeiten geschaffen werden, weil es die nicht gibt. Das ist eine Riesenaufgabe, die neben der akuten Versorgung dazu kommt.

„Viele haben auch Angst vor einer Rückkehr, selbst in Gebiete, aus denen die Russen bereits wieder abgezogen sind.“

Radio Vatikan: Gibt es denn konkrete Projekte, die Sie schon mit Ihren Partnern besprochen haben?

Christoph Lehermayr: Na ja, einerseits waren wir bislang schon sehr aktiv in der Nothilfe, denn diese Menschen müssen natürlich auch versorgt werden. Das heißt, da braucht es täglich Essen, da braucht es Sanitärgegenstände, Hygienegegenstände, aber auch die angesprochenen Unterkünfte. Da sind wir als Missio Österreich sehr aktiv.

Und dann gibt es natürlich erste Überlegungen, wie man Kapazitäten vergrößern kann. Unser Projektleiter für Pro Europa, Othmar Kolar, hat mit den Partnern auch schon einiges ins Auge gefasst, wo es vielleicht um Erweiterungen von Strukturen geht, auch zum Beispiel von Küchen. So eine große Zahl von Menschen wird versorgt werden müssen und da sind viele Anpassungen nötig. Und da schauen wir auch, inwiefern wir da unterstützen und helfen können.

Geflüchtete Familien in Uschhorod
Geflüchtete Familien in Uschhorod

Radio Vatikan: Merken Sie denn eigentlich am Spendenverhalten, dass sich die Leute allmählich an den Krieg gewöhnen? Und haben Sie in dem Zusammenhang einen Appell?

Christoph Lehermayr: Ja, natürlich. Ich bin Journalist, und ich bin seit 20 Jahren Journalist und weiß, wie die Medien funktionieren. Das heißt, ein Thema nützt sich ganz salopp gesagt natürlich ab. Und das ist in diesem Fall besonders tragisch. Was das Spendenverhalten betrifft, haben wir hier eine unglaubliche Solidarität erlebt mit der Ukraine, auch als Missio Österreich. Wir sind sehr dankbar für sehr viele großzügige Spenden. Das hält auch weiterhin an und es geht darum, diese Menschen zu versorgen.

„Viele sagen auch, wartet im Ausland eigentlich irgendjemand auf uns?“

Man wird das dann auch in unserer Berichterstattung sehen. Wir werden viele dieser Schicksale vorstellen. Das sind Mütter mit ihren Kindern, die oft wirklich nur das Nötigste haben mitnehmen können, die keine Existenz mehr haben, deren Häuser zerstört sind, die keinen Ort haben, an denen sie zurückkehren können und die Unterstützung und Hilfe brauchen. Und viele von denen, die wir gefragt haben, warum sie in der Ukraine geblieben sind und nicht ins Ausland gegangen sind haben uns gesagt: Das ist mein Land, und ich möchte in meinem Land bleiben. Viele sagen auch, wartet im Ausland eigentlich irgendjemand auf uns? Es sind eh schon so viele geflohen. Vielen geht es auch darum, ihren Männern möglichst nahe zu sein. Man muss sich ja vorstellen, das sind Mütter mit ihren Kindern, deren Männer oft einberufen wurden und an der Front ihren Dienst tun. Und da scheint es diesen Frauen natürlich wichtig, möglichst nah bei ihnen zu sein.

Diese Situation der Binnenflüchtlinge war auch einer der Gründe für uns, warum wir gesagt haben, wir möchten vor Ort sein. Es war eine sehr anstrengende Reise, wir sind 1900 Kilometer mit dem Auto gefahren, die Unterkünfte waren auch sehr voll belegt und mit dem Benzin war es schwierig. Aber all das ist nichts im Vergleich zu dem Leid und den Nöten, die die Menschen dort haben. Und das war uns besonders wichtig, weil wir auch das Gefühl haben, dass der Fokus sehr auf den Menschen liegt, die nach Deutschland, nach Österreich, nach Polen geflohen sind und sehr wenig medial berichtet wird über diese große Zahl - ich sage es noch mal, 6 Millionen Menschen - die in der Ukraine innerhalb ihres Landes geflohen sind und versorgt werden müssen. Und darauf möchten wir die Aufmerksamkeit lenken und auch bekanntmachen, dass wir Unterstützung brauchen, um diesen Menschen, diesen Familien, diesen Müttern mit ihren Kindern helfen zu können.

Radio Vatikan: Vielen Dank für diesen Bericht aus der Ukraine, Herr Lehermayr.

Christoph Lehermayr: Danke schön. Sehr gerne.

Die Fragen stellte Christine Seuss

(vatican news)

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27. Mai 2022, 14:11