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Russland: Dissidenten auf der Flucht

„Ich hatte Angst, dass ich für immer in Russland bleiben muss, wenn die Grenze geschlossen wird, aber jetzt bin ich in Aachen, und hier bin ich in Sicherheit". Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Sir beschreibt ein russischer Hochschulprofessor, mit welchen Schwierigkeiten Akademiker seit Beginn des Ukraine-Kriegs in seiner Heimat konfrontiert sind.

Silvia Kritzenberger - Vatikanstadt

Viktor Khroul, der früher an der Wirtschaftshochschule Moskau Medienethik unterrichtete, konnte dank eines Stipendiums des Katholischen Akademischen Austauschdienstes nach Deutschland ausreisen. Anfang März hatte der 58-jährige Akademiker seine Schwester in Weißrussland besucht. Als er von dem neuen Gesetz erfuhr, das die Bestrafung von Personen vorsieht, die sich kritisch zur „Sonderoperation in der Ukraine“ äußern, beschloss er, nicht zurückzufahren.

An eine Rückkehr in seinen alten Job in Moskau glaubt der Russe nicht.

„Vielleicht würden sie mich wieder reinlassen, aber ich würde auf der schwarzen Liste stehen und man würde mich nie wieder rauslassen. Da ich meine Meinung immer offen geäußert habe, könnten sie mich sogar vor Gericht bringen. Seit Februar sind 150 Journalisten vor Gericht gestellt worden. Drei meiner Kollegen sind jetzt im Gefängnis,“ beschreibt er die traurige Lage vor Ort. Die einzige Chance für eine Rückkehr sei ein Machtwechsel und die Aufhebung der im März ins Strafgesetzbuch neu eingefügten Artikel.

Die Zahl der russischen Akademiker, die ihre Heimat verlassen haben, schätzt Khroul auf 15 bis 20.000. Es gebe immer weniger Möglichkeiten, in Russland eine Arbeit zu finden, die keine Loyalität gegenüber der Macht erfordere, bedauert er.

„Ich habe den Eindruck, dass wir nicht nur in die Zeit Breschnews zurückkehren, in der man in einigen Bereichen ohne ideologische Auflagen forschen konnte, sondern auch in die Zeit Stalins, in der man seine Unterstützung für den Machthaber unmissverständlich zum Ausdruck bringen musste.“

Der Wille zum Auswandern sei bei vielen da, aber es sei schwer, ein Visum zu bekommen, so der Professor. Erschwerend käme noch hinzu, dass russische Universitäten inzwischen erkannt hätten, dass viele ihrer Dozenten im Ausland sind. Durch einen Regierungsbeschluss sei nun plötzlich beschlossen worden, dass sie an ihre Universität zurückkehren müssen – und wer das nicht tut, wird entlassen.

Nur wenig Raum für Veränderung

Es gebe also zwar durchaus Russen, die gegen den Krieg sind, aber nur wenig Raum für Veränderung, da die Propaganda in Russland sehr wirksam sei. Rund 75 Prozent der Bevölkerung unterstützten den Präsidenten und den Krieg in der Ukraine – die Andersdenkenden seien in der Minderheit und hätten keine politischen Möglichkeiten, auf das Schicksal Russlands Einfluss zu nehmen, beschreibt der Professor die Lage in seiner Heimat. Und auch wenn es an der Macht einen Wechsel geben sollte, müsste man davon ausgehen, dass ein Nachfolger des Präsidenten aus dessen loyalem Entourage kommen und seine Werte, Ansätze und Mechanismen übernehmen werde.

„Das gesamte Konzept der Demokratie ist jetzt sehr kompromittiert,“ erklärt Viktor Khroul. „Die Menschen wollen Ordnung, eine starke Hand, auch wenn das auf Kosten der demokratischen Freiheiten geht. Und das ist auch der Grund, warum mich meine westlichen Kollegen nicht verstehen und mich auffordern, nach Russland zurückzukehren, um zum Aufstand beizutragen. Aber die Russen wollen nicht den Sturz Putins. Und solange die Russen nicht verstehen, was gut und was schlecht ist, wird es unmöglich sein, die Dinge zu ändern. Wir haben die Perestroika mit so vielen Hoffnungen auf einen Wandel zum Besseren begonnen, aber das Hauptproblem der Perestroika waren die Bürger der Russischen Föderation: sie hatten nie Freiheit erlebt, und als sie dann kam, waren sie frustriert, weil sie nicht wussten, was sie damit anfangen sollten.“

Die Position der orthodoxen Kirche

Problematisch sieht Khroul auch die Position der orthodoxen Kirche, die eine Operation zur Sakralisierung des Krieges durchführe.

„Man kann es an den Äußerungen des Patriarchen und vieler Metropoliten sehen, und das hat enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wenn etwas als heilig gilt, wird es nicht mehr diskutiert, nicht mehr kritisiert und nicht mehr in Frage gestellt. Es ist gefährlich für eine christliche Kirche, etwas so offenkundig Ungerechtes wie den Krieg zu unterstützen. Es gab auch kritische Stimmen, wie die 300 Priester, die einen Brief gegen den Krieg geschrieben haben. Auch der Bischof von Litauen hat den Krieg zuerst kritisiert, dann aber aus unbekannten Gründen seine Position geändert.“

Die Angst vor einer Hexenjagd

Wie schwierig sich die Lage inzwischen auch für Katholiken in Russland gestaltet, erläutert der Professor am Beispiel von Fernando Vera, Pfarrer von St. Peter und Paul in Moskau. Dem mexikanischen Priester, der sich seit 15 Jahren in Russland aufhielt, sei vor Ostern ohne jegliche Erklärung die Aufenthaltsgenehmigung entzogen und mitgeteilt worden, dass er das Land innerhalb von zwei Tagen verlassen müsse.

„Wenn im Land ein Klima der Hexenjagd vorherrscht, dann werden die Katholiken - die mehrheitlich russische Passinhaber sind - zu einem leichten Ziel werden, da die katholische Religion im Religionsgesetz von 1997 nicht als traditionelle Religion der Föderation erwähnt wird. Und die Bischöfe und Priester wollen keine Wiederholung der Situation der stalinistischen Verfolgung.“

(sir - skr)
 

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24. Mai 2022, 15:02