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Vatikan: Die „drei Krankheiten“ der modernen Demokratien

Was ist Demokratie und was können wir tun, um sie zu erhalten? Der vatikanische „Außenminister“ Erzbischof Paul Richard Gallagher, er ist Sekretär für die Beziehungen zu den Staaten, versuchte diese Fragen in seiner Lectio magistralis zum Thema „Demokratie nach der Weisheit der Päpste im gegenwärtigen internationalen Szenario“ im Rahmen einer Konferenz zu erläutern.

Mario Galgano - Vatikanstadt

„Demokratie für das Gemeinwohl. Welche Welt wollen wir bauen?“ So lautete das Thema der Konferenz, die von der Fakultät für Sozialwissenschaften der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom am Montag organisiert wurde. „Leider scheint es heute so zu sein, dass die Volkssouveränität, die die Freiheit und Gleichheit aller Bürger garantiert, von einer negativen Politik angetrieben wird, von der Delegitimierung der Vorschläge des anderen, egal welcher Art, um die eigenen individuellen Ziele und den eigenen Konsens zu maximieren, während die Bemühungen um Einheit kaum zu bemerken sind“, so der vatikanische „Außenminister“ in seinem Vortrag. „Individualismus und Utilitarismus scheinen die einzigen Antworten auf das Bedürfnis nach Glück zu sein, die die Strukturen der falschen Demokratie festigen“, fügte Erzbischof Gallagher in der lectio magistralis hinzu, die von der Betrachtung des christlichen Einflusses bei der Entwicklung der modernen und zeitgenössischen Demokratietheorie ausging.

Unter Hinweis darauf, dass die Carta Caritatis von 1119 als Charta der Liebe und Einmütigkeit, das den Orden von Cîteaux begründete, als erstes Manifest für ein ziviles und demokratisches Zusammenleben angesehen werden kann, betonte Gallagher. Demokratie bilde deshalb der Dienst an der symphonischen Einheit eines Volkes, das Ergebnis einer Verpflichtung zur Schaffung von Einheit sei.

Der britische Diplomat zitierte zu diesem komplexen Thema Kardinal Joseph Ratzinger, der vom Gesetz als Ausdruck des gemeinsamen Interesses sprach und sich von den deutschen Denkern Harmut Rosa und Eric Weil inspirieren ließ.

Beschleunigung der Gesellschaften führt zu Kurzschlüssen

Erzbischof Gallagher fragte dann, wie sich das Phänomen der menschlichen Mobilität auf die Widerstandsfähigkeit der Bindung zwischen Individuen auswirkt, die zu Agglomerationen einander fremder, ja sogar konkurrierender und gegenseitig feindseliger Subjekte werden. Er erläuterte insbesondere, wie die Beschleunigung unserer Zeit einen Kurzschluss schaffe, in dem die Veränderungen scheinbar keine wirkliche Richtung hätten. Er erinnerte daran, dass der demokratische Prozess notwendigerweise mehrschichtig ist: Die Argumente aller Beteiligten in Richtung Repräsentativität zu lenken, sei etwas, das Zeit brauche.

Die Konsequenz sei klar, so Gallagher: „In der modernen Politik entscheidet mehr als in der Vergangenheit nicht die Macht des besten Arguments über die zukünftige Politik, sondern die Macht des Grolls, der instinktiven Gefühle, der Metaphern und der suggestiven Bilder.“ Er betonte, was er als „ästhetische Wende in der Politik“ bezeichnete: Politiker und Gruppen gewinnen Wahlen, weil sie als tolle Menschen gelten, und nicht, weil sie Ideen, Programme und Thesen formuliert haben.

Gallagher ging sogar so weit, davon zu sprechen, dass „alle politischen und individuellen Energien auf dem Altar des sozioökonomischen Wettbewerbs geopfert werden“.

Die Heiligkeit der menschlichen Person wird mit Füßen getreten

Erzbischof Gallagher ging dann auf das diesbezügliche Erbe von Leo XII. und Pius XII. ein, die anprangerten, wie „die Krise der Totalitarismen dadurch verursacht wird, dass die Lehre und die Praxis des sozialen Zusammenlebens vom Bezug auf Gott getrennt wurden, und dadurch, dass die Heiligkeit der menschlichen Person, die im Zentrum der sozialen Ordnung steht, mit Füßen getreten wurde“. Mit Papst Pius XII. habe sich die Soziallehre der Kirche nunmehr die Demokratie vollständig assimiliert. Und die folgenden Sozialenzykliken seien in die gleiche Richtung gegangen. In diesem Sinne erinnerte er an den Beitrag von Johannes XXIII., Johannes Paul II. bis hin zu Franziskus, der, als er 2011 Kardinal war, über die Degeneration der Politik, die Entleerung der Demokratie und die Krise der Eliten schrieb.

„Der vibrierende ethische Anspruch“ von Papst Franziskus

In den Positionen als Papst sei bei Franziskus sofort eine „starke ethische Forderung zu erkennen, ein Appell an die Verantwortung aller, insbesondere derjenigen, die die Regierungen führen, damit wir uns verpflichten, einen Zustand zu überwinden, der nicht mehr akzeptabel und nicht mehr tragbar ist“. Zusammenfassend schlage Franziskus vor, dass die Demokratie substanziell, partizipativ und sozial aufgebaut werden sollte und sich nicht mit einer „Demokratie mit geringer Intensität“ zufrieden geben sollte.

In diesem Zusammenhang zitierte Gallagher die berühmten Reden des derzeitigen Pontifex in Griechenland (2021), in denen er betonte, dass das Heilmittel für die Wiederbelebung der Demokratie nicht im zwanghaften Streben nach Popularität, im Verlangen nach Sichtbarkeit und der Verkündung unmöglicher Versprechen oder im Festhalten an abstrakten ideologischen Kolonialisierungen liegt, sondern in guter Politik als der höchsten Verantwortung des Bürgers und in der „Kunst des Gemeinwohls“. Dies seo der wahrhaft demokratische Politikstil von Franziskus, den er bereits 2014 im Europäischen Parlament hervorgehoben habe.

Von der Demokratie als freier Diskussion

„Die Demokratie schließt politische, wirtschaftliche, soziale, religiöse und ideologische Gegensätze nicht aus, sondern nährt sich im Gegenteil von ihnen“, sagte Erzbischof Gallagher, der betonte, dass es keine Demokratie in einer Nation geben könne, die nicht durch gemeinsame Werte geeint sei und bestimmte Ziele nicht als wünschenswert anerkenne. Der Sekretär für die Beziehungen zu den Staaten stellte unter anderem folgende Frage: „Kann sich eine Mehrheit für ein Programm zur Ausrottung all derer zusammenschließen, die sich dem Sieg des Mehrheitsdenkens und der Mehrheitsleidenschaft widersetzen oder widersetzt haben? Haben wir in diesem Fall noch eine Demokratie?“

Die entscheidende Frage sei, dass die Demokratie nicht allen Spannungen und Ungerechtigkeiten standhalte. In Bezug auf die Architektur der Demokratie wies er auf drei weitere Elemente hin, die zusammenwirken müssen, da das System sonst zusammenbricht: die theoretische Basis, die soziale Struktur und der Rechtsrahmen. „Der Staat ist der rechtliche Rahmen für diese Gesellschaft, aber er absorbiert sie nicht, sondern lenkt, koordiniert, integriert und ersetzt sie, wenn nötig.“

Die drei Pathologien der modernen Demokratien

„Die Zersetzung oder Korrosion, die durch die Unterbrechung der lebenswichtigen Verbindung zwischen Konsens und Wahrheit verursacht wird, die oligarchische und, sagen wir, lobbistische Degeneration der Demokratie und die welfaristischen und bürokratischen Auswüchse des Wohlfahrtsstaates sind Beispiele für diese Krankheiten“, so Gallagher.

Am besorgniserregendsten und zersetzendsten sei laut dem vatikanischen „Außenminister“ der erste Punkt, nämlich die Beziehung zwischen Konsens und Wahrheit. Diese Beziehung in ihrer korrekten Auslegung wiederherzustellen, erfordere die Überzeugung, dass die Konsensregel einem grundlegenden Wahrheitskriterium untergeordnet sei, also der Bindung an tiefe und gemeinsame Wahrheiten und Ideale.

Diese Überzeugung müsse in der Praxis vom Gewissen und von der Gemeinschaft verinnerlicht werden, und schließlich sei die regelmäßige praktische Pflege eines Netzes weit verbreiteter bürgerlicher Tugenden von großer Bedeutung. Zusammenfassend lasse sich sagen, dass bei einem Mangel an guter Regierungsführung das Fehlen jeglicher Regeln für das gesellschaftliche Leben die Oberhand gewinnen würde: Gewalt, Zerstörung von Gebäuden und Feldern, Brände und Tod wären die Folge.

In Anlehnung an die Allegorie der guten Regierung nannte er abschließend die Tugenden, an denen man sich stets orientieren sollte: Frieden, Seelenstärke, Besonnenheit, Großmut, Mäßigung, flankiert von den theologischen Tugenden.

(vatican news)

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29. März 2023, 13:36