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Wortlaut: Predigt von Franziskus zum Jahresende

Hier finden Sie die Predigt, die Papst Franziskus beim feierlichen „Te Deum“ am Silvesterabend im Petersdom gehalten hat, in einer Arbeitsübersetzung von Radio Vatikan.

„Geboren von einer Frau“ (Gal 4,4).

Als Gott in der Fülle der Zeit Mensch wurde, kam er nicht vom Himmel herab auf die Welt, sondern er wurde von Maria geboren. Er wurde nicht in einer Frau, sondern von einer Frau geboren. Das ist etwas ganz anderes: Es bedeutet, dass Gott Fleisch von ihr nehmen wollte. Er hat sie nicht ausgenutzt, sondern sie um ihr Ja, ihre Zustimmung gebeten. Und mit ihr begann er den langsamen Weg der Heranreifung einer Menschheit, die frei von Sünde und voll von Gnade und Wahrheit, voll von Liebe und Treue ist. Ein schönes, gutes und wahres Menschsein, nach dem Bild und Gleichnis Gottes, aber mit unserem von Maria dargebotenen Fleisch verwoben; nie ohne sie, immer mit ihrer Zustimmung; in Freiheit, in Unentgeltlichkeit, in Achtung, in Liebe.

„Der Weg, der Gottes äußerste Achtung vor unserer Freiheit offenbart“

Dies ist der Weg, den Gott gewählt hat, um in die Welt und in die Geschichte einzutreten, dies ist der Weg. Und dieser Weg ist wesentlich, so wesentlich wie die Tatsache, dass er gekommen ist. Die göttliche Mutterschaft Marias - die jungfräuliche Mutterschaft, die fruchtbare Jungfräulichkeit - ist der Weg, der Gottes äußerste Achtung vor unserer Freiheit offenbart. Er, der uns ohne uns geschaffen hat, will uns nicht ohne uns retten (vgl. Augustinus, Sermo CLXIX, 13).

Dieser Weg, auf dem er gekommen ist, um uns zu retten, ist der Weg, auf dem er auch uns einlädt, ihm zu folgen, um mit ihm zusammen die neue, freie, versöhnte Menschheit zu schaffen. Es ist ein Stil, eine Art der Beziehung zu uns, aus der sich die vielen menschlichen Tugenden des guten und würdigen Zusammenlebens ableiten. Eine dieser Tugenden ist die Freundlichkeit als eine Lebensweise, die Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft fördert (vgl. Enzyklika Fratelli tutti, 222-224).

Eine Würdigung des emeritierten Papstes

Und wenn ich von Freundlichkeit spreche, geht mein Gedanke in diesem Moment spontan zum innig geliebten emeritierten Papst Benedikt XVI., der heute Morgen von uns gegangen ist. Bewegt erinnern wir uns an seine so edle, so freundliche Gestalt. Und wir fühlen im Herzen große Dankbarkeit: Dankbarkeit gegenüber Gott, dass er ihn der Kirche und der Welt geschenkt hat, und Dankbarkeit ihm gegenüber für all das Gute, das er getan hat, vor allem für sein Zeugnis des Glaubens und Gebets, vor allem in diesen letzten Jahren des zurückgezogenen Lebens. Gott allein kennt den Wert und die Kraft seines Fürbittgebets, seiner Opfer, die er für das Wohl der Kirche gebracht hat.

Heute Abend möchte ich die Freundlichkeit auch als mitbürgerliche Tugend vorschlagen und dabei insbesondere an unsere Diözese Rom denken.

„Eine Tugend, die wir jeden Tag neu erlernen und ausüben müssen“

Die Freundlichkeit ist ein wichtiger Faktor in der Kultur des Dialogs, und der Dialog ist unverzichtbar, wenn wir in Frieden leben wollen, als Geschwister, die nicht immer miteinander auskommen - das ist normal -, die aber dennoch miteinander reden, einander zuhören und versuchen, einander zu verstehen und zu begegnen. „Man braucht nur daran zu denken, was die Welt ohne dieses geduldige Gespräch so vieler hochherziger Menschen wäre, die Familien und Gemeinschaften zusammengehalten haben. Ein beharrlicher und mutiger Dialog erregt kein Aufsehen wie etwa Auseinandersetzungen und Konflikte, aber er hilft unauffällig der Welt, besser zu leben“ (ebd., 198). Nun, Freundlichkeit ist Teil des Dialogs. Es ist nicht nur eine Frage des guten Tons; es ist keine Frage der Etikette, der galanten Formen... Nein, das ist nicht das, was wir hier meinen, wenn wir von Freundlichkeit sprechen. Vielmehr ist es eine Tugend, die wir jeden Tag neu erlernen und ausüben müssen, um gegen den Strom zu schwimmen und unsere Gesellschaften menschlicher zu machen.

Die Schäden, die der konsumorientierte Individualismus anrichtet, liegen vor aller Augen. Der schwerwiegendste Schaden besteht darin, dass andere, die Menschen um uns herum, als Hindernisse für unsere Ruhe, für unser Wohlbefinden wahrgenommen werden. Andere belästigen uns, stören uns, nehmen uns die Zeit und die Ressourcen, die wir brauchen, um das zu tun, was wir wollen. Individualistische und konsumorientierte Gesellschaften neigen dazu, aggressiv zu sein, weil sie mit anderen konkurrieren müssen (vgl. ebd., 222). Dennoch gibt es gerade in unseren Gesellschaften und selbst in den schwierigsten Situationen Menschen, die zeigen, dass es „immer noch möglich ist, sich für die Freundlichkeit zu entscheiden“ und so durch ihren Lebensstil „zu Sternen inmitten der Dunkelheit zu werden“ (vgl. ebd.).

„Den Nächsten nicht mit Worten oder Gesten verletzen“

Paulus spricht in demselben Brief an die Galater, dem die Lesung dieser Liturgie entnommen ist, von den Früchten des Heiligen Geistes, von denen er eine mit dem griechischen Wort „chrestotes“ bezeichnet (vgl. 5,22). Das ist es, was wir unter „Freundlichkeit“ verstehen können: eine wohlwollende Haltung, die andere unterstützt und tröstet, während sie jede Härte und Strenge vermeidet. Eine Art und Weise, den Nächsten zu behandeln, ohne ihn mit Worten oder Gesten zu verletzen; zu versuchen, die Last des anderen zu erleichtern, ihn zu ermutigen, zu trösten, zu besänftigen; ohne ihn jemals zu demütigen, zu erniedrigen oder zu verachten (vgl. Fratelli tutti, 223).

Die Freundlichkeit ist ein Gegenmittel gegen einige Pathologien unserer Gesellschaft: ein Gegenmittel gegen die Grausamkeit, die sich leider wie ein Gift ins Herz einschleichen und die Beziehungen vergiften kann; ein Gegenmittel gegen die weit verbreitete Angst und den Rausch, die dazu führen, dass wir uns auf uns selbst fixieren und uns den anderen gegenüber verschließen (vgl. ebd., 224). Diese „Krankheiten“ unseres täglichen Lebens machen uns aggressiv und unfähig, um „Erlaubnis“ oder „Entschuldigung“ zu bitten oder einfach „Danke“ zu sagen. Die drei so menschlichen Worte des Zusammenlebens: Bitte, Entschuldigung, Danke. Mit diesen drei Worten gehen wir in Frieden, in menschlicher Freundschaft voran. Es sind die Worte der Freundlichkeit: Erlaubnis, Entschuldigung, Dankeschön. Es wird uns gut tun, daran zu denken, wenn wir sie oft in unserem Leben verwenden: Bitte, Entschuldigung, Danke. 

Wenn wir also auf der Straße, in einem Geschäft oder in einem Büro einem freundlichen Menschen begegnen, sind wir erstaunt; es scheint wie ein kleines Wunder, denn leider ist Freundlichkeit nicht mehr sehr verbreitet. Aber Gott sei Dank gibt es noch freundliche Menschen, die es verstehen, ihre eigenen Sorgen beiseite zu schieben, um anderen Aufmerksamkeit zu schenken, ein Lächeln zu schenken, ein Wort der Ermutigung zu sagen, jemandem zuzuhören, der sich einem anderen anvertrauen muss, der sich Luft machen muss (vgl. ebd.).

„Erlauben wir uns, über die Wahl Gottes zu staunen“

Schauen wir auf die Ikone der Jungfrau Maria. Heute und morgen können wir sie hier im Petersdom auch im Bildnis der „Madonna del Carmine“ von Avigliano bei Potenza verehren. Nehmen wir das Geheimnis der göttlichen Mutterschaft nicht als selbstverständlich hin! Erlauben wir uns, über die Wahl Gottes zu staunen, der auf tausend Arten in der Welt hätte erscheinen können, um seine Macht zu zeigen, und der stattdessen in voller Freiheit im Schoß Marias empfangen werden wollte, der neun Monate lang wie jedes andere Kind geformt werden wollte, um schließlich von ihr geboren zu werden, geboren von einer Frau. Gehen wir nicht schnell darüber hinweg, sondern halten wir inne, um nachzudenken und zu meditieren, denn hier liegt ein wesentlicher Teil des Heilsgeheimnisses. Und versuchen wir, die „Methode“ Gottes zu lernen, seine unendliche Achtung, seine Freundlichkeit, denn in der göttlichen Mutterschaft der Jungfrau liegt der Weg zu einer menschlicheren Welt.

(vatican news – sk)

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31. Dezember 2022, 18:01