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Papst-Botschaft zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel 2020

Vatican News dokumentiert an dieser Stelle die Botschaft des Papstes zum 54. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel 2020 in der offiziellen deutschen Übersetzung. In Deutschland wird der Welttag am 2. Sonntag im September begangen (weltweit wird er sechs Wochen nach dem Ostersonntag begangen). Diese und alle anderen Papst-Botschaften können Sie auf der Seite www.vaticannews.va einsehen.

„Damit du deinem Sohn und deinem Enkel erzählen kannst“ (Ex 10,2). Das Leben wird Geschichte

Ich möchte die diesjährige Botschaft zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel dem Thema des Erzählens widmen, denn ich glaube, dass wir, wenn wir uns nicht verlieren wollen, die Wahrheit guter Geschichten nötig haben wie den Atem: Geschichten, die erbauen, nicht zerstören; Geschichten, die uns helfen, unsere Wurzeln und die Kraft zu finden, gemeinsam voranzugehen. Im Wirrwarr der uns umgebenden Stimmen und Botschaften brauchen wir ein menschliches Erzählen, das uns von uns und von dem Schönen spricht, das in uns wohnt. Ein Erzählen, das die Welt und die Ereignisse mit Zärtlichkeit zu betrachten versteht; das erzählt, dass wir Teil eines lebendigen Gewebes sind und das zeigt, wie sehr die Fäden, die uns aneinander binden, miteinander verflochten sind.

1. Geschichten weben

Der Mensch ist ein Erzähler. Seit unserer Kindheit hungern wir nach Geschichten, so wie wir nach Nahrung hungern. Ob es nun Märchen, Romane, Filme, Lieder oder Nachrichten sind: Geschichten beeinflussen unser Leben, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Oft entscheiden wir anhand der Charaktere und Geschichten, die wir in uns aufgenommen haben, was richtig oder falsch ist. Geschichten prägen uns, sie formen unsere Überzeugungen und unser Verhalten, sie können uns dabei helfen, zu verstehen und zu sagen, wer wir sind.

Der Mensch ist nicht nur das einzige Lebewesen, das Kleidung braucht, um seine Verwundbarkeit zu verhüllen (vgl. Gen 3,21) – er ist auch das einzige, das von sich erzählen, sich in Geschichten „kleiden“ muss, um sein Leben zu bewahren. Wir weben nicht nur Kleider, sondern auch Erzählungen: die menschliche Fähigkeit zu „weben“ bringt Textilien und Texte hervor. Die Geschichten aller Zeiten haben einen gemeinsamen „Webstuhl“ und die Gewebestruktur sieht „Helden“ vor – auch ganz alltägliche –, die einem Traum nachjagen und dabei schwierige Situationen bewältigen und das Böse bekämpfen, stets getrieben von einer Kraft, die ihnen Mut verleiht: die Kraft der Liebe. Beim Eintauchen in die Geschichten können wir heroische Beweggründe finden, die uns helfen, uns den Herausforderungen des Lebens zu stellen.

Der Mensch ist ein erzählendes Wesen, weil er ein werdendes Wesen ist, das sich im Gewebe des täglichen Lebens entdeckt und darin Bereicherung findet. Doch unsere Erzählung ist von Anfang an bedroht: überall in der Geschichte lauert das Böse.

2. Nicht alle Geschichten sind gut

»Wenn du davon isst, wirst du wie Gott werden« (vgl. Gen 3,4). Die Versuchung durch die Schlange bringt einen nur schwer zu lösenden Knoten in das Gewebe der Geschichte. „Wenn du dieses oder jenes besitzt, dann wirst du, dann erreichst du ...“, flüstern uns auch heute noch jene zu, die das sogenannte storytelling instrumentalisieren. Wie viele Geschichten betäuben uns, machen uns glauben, dass wir, um glücklich zu sein, immer mehr besitzen, immer mehr konsumieren müssen. Wir merken schon gar nicht mehr, wie sehr wir nach Klatsch und Tratsch gieren, wie viel Gewalt und Falschheit wir „konsumieren“. Oft werden auf den „Webstühlen“ der Kommunikation keine konstruktiven Geschichten produziert, die die sozialen Bande und das kulturelle Gewebe zusammenhalten, sondern destruktive und provokative Geschichten, die die zerbrechlichen Fäden des Zusammenlebens abnutzen und zerreißen. Indem man ungeprüfte Informationen zusammenträgt, banales und manipulatives Gerede wiederholt, Hasstiraden auf die anderen entlädt, webt man nicht die Geschichte der Menschen, sondern beraubt sie ihrer Würde.

Aber während jene Geschichten, die für irgendwelche Zwecke oder zur Machtausübung instrumentalisiert werden, nur kurzlebig sind, ist eine gute Geschichte in der Lage, die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden. Sie bleibt über Jahrhunderte hin aktuell, weil sie dem Leben Nahrung gibt. In einem Zeitalter, in dem die Kunst der Fälschung immer raffinierter wird und ein unglaubliches Niveau erreicht hat (Deepfake), brauchen wir Weisheit, um schöne, wahre und gute Geschichten aufzunehmen und hervorzubringen. Wir brauchen Mut, um die falschen und bösartigen Geschichten zurückzuweisen. Und wir brauchen Geduld und Unterscheidungsvermögen, um jene Geschichten wiederzuentdecken, die uns helfen, inmitten der Zerrissenheit unserer Zeit nicht den Faden zu verlieren; Geschichten, die die Wahrheit unseres Seins wieder ans Licht bringen – auch in der oft übersehenen Heroik des Alltags.

3. Die Geschichte der Geschichten

Die Heilige Schrift ist eine Geschichte aus Geschichten. Wie vielen Ereignissen, Völkern und Personen begegnen wir in ihr! Sie zeigt uns von Anfang an einen Gott, der Schöpfer und zugleich Erzähler ist: Er spricht sein Wort, und die Dinge sind da (vgl. Gen 1). Durch sein Wort ruft Gott die Dinge ins Leben und als Höhepunkt der Schöpfung erschafft er den Mann und die Frau als seine freien Gesprächspartner, die gemeinsam mit ihm Geschichte hervorbringen. In einem Psalm erzählt das Geschöpf dem Schöpfer: »Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. […]. Dir waren meine Glieder nicht verborgen, als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde« (139,13-15). Wir werden nicht vollkommen geboren – wir müssen immerfort „gewoben“ und „gewirkt“ werden. Das Leben ist uns als Einladung geschenkt, auch weiterhin jenes „staunenswert und wunderbar gestaltete“ Wesen zu „weben“, das wir sind.

In diesem Sinne ist die Bibel die große Liebesgeschichte zwischen Gott und der Menschheit. Im Mittelpunkt steht Jesus: seine Geschichte führt die Liebe Gottes zum Menschen und zugleich auch die Liebesgeschichte des Menschen mit Gott zur Vollendung. Und so ist der Mensch, von Generation zu Generation, gerufen, die wichtigsten Episoden dieser Geschichte aus Geschichten zu erzählen und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen: jene Episoden, die geeignet sind, den Sinn dessen mitzuteilen, was sich zugetragen hat.

Der Titel dieser Botschaft ist dem Buch Exodus entnommen, jener grundlegenden biblischen Erzählung, die beschreibt, wie Gott in die Geschichte seines Volks eingreift. Als die geknechteten Kinder Israels zu Gott rufen, schenkt er ihnen Gehör und gedenkt ihrer: »Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. Gott blickte auf die Israeliten. Gott hatte es wahrgenommen« (Ex 2,24-25). Das Gedenken Gottes führt durch Zeichen und Wunder zur Befreiung aus der Knechtschaft. Und an dieser Stelle offenbart Gott dem Mose auch den Sinn all dieser Zeichen: »...damit du deinem Sohn und deinem Enkel erzählen kannst, [...] welche Zeichen ich [...] vollbracht habe. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin!« (Ex 10,2). Die Erfahrung des Exodus lehrt uns, dass die Erkenntnis Gottes vor allem dadurch vermittelt wird, dass man von Generation zu Generation erzählt, wie Gott auch weiterhin seine Präsenz zeigt. Der Gott des Lebens tut sich kund, indem er das Leben erzählt.

Jesus selbst hat nicht in abstrakten Reden von Gott gesprochen, sondern in Gleichnissen, kurzen, dem Alltag entnommenen Erzählungen. Darin wird Leben Geschichte – und für den Zuhörer wird die Geschichte dann zum Leben: diese Erzählung dringt in das Leben eines jeden ein, der ihr lauscht, und verwandelt es.

So ist es kein Zufall, dass auch die Evangelien Erzählungen sind. Sie informieren uns nicht nur über Jesus, sie sind auch „performativ“[1], sie gestalten uns Jesus gleich: das Evangelium fordert den Leser auf, am Glauben Jesu teilzuhaben, um an seinem Leben Anteil zu erhalten. Das Johannesevangelium sagt uns, dass der Erzähler schlechthin – der logos, das ewige Wort – Erzählung geworden ist: »Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht« (Joh 1,18). Ich habe den Begriff „erzählen“ gebraucht, weil der ursprüngliche Begriff exeghésato sowohl mit „Kunde bringen“ als auch „erzählen“ übersetzt werden kann. Gott selbst hat sich in unsere Menschheit „eingewoben“ und uns so eine neue Art und Weise geschenkt, unsere Geschichten zu weben.

4. Eine Geschichte, die sich erneuert

Die Geschichte Christi ist kein Erbe der Vergangenheit, sie ist unsere Geschichte, und sie ist stets aktuell. Sie zeigt uns, dass der Mensch, unser Fleisch, unsere Geschichte, Gott so sehr am Herzen lag, dass er selbst Mensch, Fleisch und Geschichte geworden ist. Und sie sagt uns auch, dass es keine unbedeutenden, „kleinen“ menschlichen Geschichten gibt. Seit Gott Geschichte geworden ist, ist jede menschliche Geschichte in einem gewissen Sinne göttliche Geschichte. In der Geschichte eines jeden Menschen erkennt der Vater die Geschichte seines auf die Erde herabgestiegenen Sohnes wieder. Jede menschliche Geschichte hat eine ununterdrückbare Würde. Und deshalb verdient die Menschheit auch Geschichten, die ihrem Niveau entsprechen, jener schwindelerregenden und faszinierenden Höhe, auf die Jesus sie emporgehoben hat.

»Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi – so bemerkte der heilige Paulus –, … geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch« (2Kor 3,3). Der Heilige Geist, die Liebe Gottes, schreibt in uns. Und indem er in uns schreibt, verankert er das Gute in uns und ruft es uns in Erinnerung. Erinnern bedeutet nämlich ans Herz legen, ins Herz „schreiben“. Durch die Kraft des Heiligen Geistes kann jede Geschichte, selbst die vergessenste, selbst die, die auf den schiefsten Zeilen geschrieben zu sein scheint, Inspiration finden, als ein Meisterwerk wiedergeboren, zu einem Anhang des Evangeliums werden. Wie die Bekenntnisse des Augustinus. Wie der Bericht des Pilgers von Ignatius. Wie die Geschichte einer Seele der Theresia vom Kinde Jesus. Wie Die Brautleute von Manzoni oder Die Brüder Karamasow von Dostojewski. Und wie unzählige andere Geschichten, die die Begegnung der Freiheit Gottes mit der des Menschen auf bewundernswerte Weise in Szene gesetzt haben. Jeder von uns kennt verschiedene Geschichten, die den Duft des Evangeliums an sich haben und jene Liebe bezeugen, die das Leben verwandelt. Diese Geschichten verlangen danach, zu jeder Zeit, in jeder Sprache, mit jedem Mittel weitergegeben, erzählt und zum Leben erweckt zu werden.

5. Eine Geschichte, die uns erneuert

In jeder großen Geschichte kommt auch unsere eigene Geschichte vor. Wenn wir die Bibel lesen, die Geschichten der Heiligen und auch die Texte, die in der Seele des Menschen zu lesen und deren Schönheit ans Licht zu bringen vermochten, dann ist der Heilige Geist frei, in unser Herz zu schreiben und in uns die Erinnerung an das zu erneuern, was wir in den Augen Gottes sind. Wenn wir der Liebe gedenken, die uns geschaffen und erlöst hat, wenn wir in unsere Alltagsgeschichten Liebe einfließen lassen, wenn wir in das Gewebe unseres täglichen Lebens Barmherzigkeit hineinweben, dann schlagen wir wirklich ein neues Kapitel auf. Dann bleiben wir nicht länger in unserer Wehmut und unserer Traurigkeit gefangen und an eine krankhafte Erinnerung gebunden, die das Herz gefangen hält. Indem wir uns den anderen öffnen, öffnen wir uns auch der Vision des Erzählers selbst. Gott unsere Geschichte zu erzählen, ist nie umsonst: selbst wenn die äußeren Ereignisse unverändert bleiben, ändern sich doch der Sinn und die Perspektive. Dem Herrn von sich zu erzählen bedeutet, seine Sichtweise anzunehmen, die voll barmherziger Liebe für uns und für die anderen ist. Ihm können wir unsere Erlebnisse erzählen, ihm können wir Menschen und Situationen anvertrauen. Mit Gott können wir das Geflecht des Lebens neu weben, seine Brüche und Risse flicken – wie sehr haben wir das alle nötig!

Mit dem Blick des Erzählers – dem Einzigen, der den letzten Überblick hat – nähern wir uns dann den Protagonisten, unseren Brüdern und Schwestern, die wie wir eine Rolle auf der Bühne der Geschichte von heute spielen. Auf der Bühne der Welt ist nämlich niemand ein Statist, und die Geschichte eines jeden ist offen für eine mögliche Veränderung. Auch wenn wir vom Bösen erzählen, können wir lernen, Raum für die Erlösung zu lassen, können wir inmitten des Bösen auch die Dynamik des Guten erkennen und ihr Raum geben.

Es geht also nicht darum, der Logik des storytellings zu folgen und auch nicht darum, Werbung zu machen oder sich selbst zur Schau zu stellen, sondern das Gedenken an das zu bewahren, was wir in den Augen Gottes sind; für das Zeugnis abzulegen, was der Heilige Geist in unsere Herzen schreibt; allen zu offenbaren, dass ihre Geschichten herrliche Wunder enthalten. Vertrauen wir uns, damit wir das tun können, einer Frau an, die die menschliche Natur Christi in ihrem Schoß „gewoben“ hat, und die – wie das Evangelium sagt – alles, was ihr widerfahren ist, zu einem Gewebe zusammengefügt hat. Die Jungfrau Maria hat nämlich alles bewahrt und in ihrem Herzen erwogen (vgl. Lk 2,19). Bitten wir diejenige um ihre Hilfe, die es verstanden hat, die Knoten des Lebens mit der sanften Kraft der Liebe zu lösen:

O Maria, Frau und Mutter, du hast in deinem Schoß das göttliche Wort gewoben, du hast mit deinem Leben vom wunderbaren Wirken Gottes erzählt. Höre unsere Geschichten, bewahre sie in deinem Herzen und mache auch jene Geschichten zu den deinen, die niemand hören will. Lehre uns, den guten Faden zu erkennen, der die Geschichte lenkt. Schaue auf die Unmenge an Knoten, in die unser Leben verstrickt ist und die unsere Erinnerung betäuben. Deine sanften Hände vermögen jeden Knoten zu lösen. Frau des Geistes, Mutter der Zuversicht, inspiriere auch uns. Hilf uns, Geschichten des Friedens, Geschichten der Zukunft zu schaffen. Und zeige uns den Weg, wie wir diese Geschichten gemeinsam leben können.

Rom bei St. Johannes im Lateran, am 24. Januar 2020, dem Gedenktag des hl. Franz von Sales

[1] Vgl. BENEDIKT XVI., Enz. Spe salvi, 2: »Die christliche Botschaft war nicht nur „informativ“, sondern „performativ“ – das heißt: Das Evangelium ist nicht nur Mitteilung von Wissbarem; es ist Mitteilung, die Tatsachen wirkt und das Leben verändert. Die dunkle Tür der Zeit, der Zukunft, ist aufgesprengt. Wer Hoffnung hat, lebt anders; ihm ist ein neues Leben geschenkt worden«.

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24. Januar 2020, 11:00