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Kinder auf der Flucht Kinder auf der Flucht  (AFP or licensors)

D: Sant’Egidio fordert vor Flüchtlingsgipfel neue Denkmuster

Seit über sieben Jahren sammelt die Gemeinschaft Sant’Egidio positive Erfahrungen mit legaler Einwanderung nach Europa. Speziell das Zusammenwirken von Zivilgesellschaft und staatlichen Stellen könne Vorbild für die EU sein. Wie das konkret gehen kann, dazu hat das Kölner Domradio mit Pfarrer Matthias Leineweber gesprochen. Er ist Geistlicher Begleiter der katholischen Bewegung in Deutschland.

DOMRADIO.DE: Was genau sind diese humanitären Korridore?

Pfarrer Matthias Leineweber (Geistlicher Begleiter von Sant’Egidio Deutschland): Diese Praxis setzt einen Aspekt der europäischen Flüchtlingsvorschriften um. Dass es nämlich möglich ist, in besonderen Fällen humanitäre Visa zur Einreise zu verleihen. Diese Vorschrift haben wir in unserem Projekt in Flüchtlingslagern im Libanon, in Äthiopien und in Libyen angewendet, um eine sichere, legale und eben auch kontrollierte Einreise nach Europa zu ermöglichen. Es ist ein Projekt, das die Zivilgesellschaft gemeinsam mit staatlichen Trägern umsetzt.

Das kommt dem Staat zugute, aber es kommt vor allen Dingen auch den Flüchtlingen zugute. Denn so müssen die Flüchtlinge sich nicht in die Hände von Schleppern begeben und nicht die gefährlichen Überfahrten wagen. Dem Staat kommt das entgegen, weil er sagen kann: ´Diese Zahl von Flüchtlingen kann ich aufnehmen. Ich kann diesen Personen zustimmen. Ich erteile das Visum und gebe die Erlaubnis.´ Damit sind Legalität und Sicherheit gewährleistet, die für Staaten so wichtig sind. Ich glaube, es ist ein recht gutes und mittlerweile auch schon über sieben Jahre lang bewährtes Modell.

DOMRADIO.DE: Seit wann genau und wo arbeiten Sie von Sant'Egidio mit solchen humanitären Korridoren - und mit welchem Fazit bislang?

Leineweber: Wir haben 2016 damit angefangen, also einige Jahre vor der Pandemie. Wir haben Leute aus dem Libanon geholt, vor allem Geflüchtete, die aus Syrien oder aus dem Irak stammten und die eine bestimmte Bedürftigkeit hatten. Das war erklärtes Ziel des Projekts: Besonders auch traumatisierte Personen und Kranke herauszuholen, die mit ihren Familien einreisen konnten, und eben auch alleinerziehende Frauen, die in solchen Flüchtlingscamps in diesen Ländern völlig überfordert sind und nicht versorgt werden.

„Unser Fazit ist also sehr positiv.“

Auf diese Weise sind mittlerweile über 7.000 Personen nach Frankreich, Italien und Belgien gekommen; auch kleine Länder wie Andorra und San Marino haben sich mit kleinen Kontingenten beteiligt. Das Gute ist auch, dass diese Geflüchteten sofort in Familien oder bei Institutionen untergekommen sind, also nicht in ein großes Camp mussten und sofort bei der Integration begleitet wurden. Es ist sehr erfolgreich, weil auch die persönlichen Kontakte mit Einheimischen eine sehr schnelle Möglichkeit bieten, sich einzuleben, eine Arbeit zu finden, die Kinder in die Schule zu bringen. Unser Fazit ist also sehr positiv.

DOMRADIO.DE: Inwieweit sehen Sie Ihr Modell als Vorbild für eine menschlichere Migrationspolitik in Europa?

Leineweber: Es ermutigt uns, dass wir eine große Bereitschaft in der Zivilgesellschaft festgestellt haben. Das haben wir in Deutschland ja auch bei den ukrainischen Geflüchteten gesehen: Wenn es nicht zu viele bürokratische Hürden gibt, sind doch sehr viele Menschen bereit, sich zu engagieren, Wohnraum zur Verfügung zu stellen, bei Gängen auf Ämter zu begleiten, etc. Das hat sich bei den humanitären Korridoren als überaus positiv erwiesen.

„Von daher sind die humanitären Korridore tatsächlich ein Modellprojekt, das man ausweiten könnte.“

Es entlastet den Staat und spart auch Geld, weil viele Träger bereit sind, für eine gewisse Zeit kostenlos Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Es schafft Beziehungen und hat zum Beispiel auch Ortschaften wiederbelebt, die von Abwanderung gekennzeichnet sind, gerade in manchen ländlichen Regionen Italiens. Von daher sind die humanitären Korridore tatsächlich ein Modellprojekt, das man ausweiten könnte. Dazu sind sie auch gedacht.

DOMRADIO.DE: Die EU versucht, über Flüchtlingsabkommen mit Drittstaaten zu verhindern, dass Menschen überhaupt in die Union kommen. Mit der Türkei hat das eine Zeit lang geklappt. Jetzt sind weitere solche Abkommen angedacht, mit nordafrikanischen Staaten zum Beispiel. Wie beurteilen Sie solche Ansätze?

Leineweber: Ich glaube, dass das ein falscher Ansatz ist, weil sich der Strom der Migranten damit nicht stoppen lässt. Die Menschen werden immer irgendwelche Wege finden, dann leider nicht sehr humane Wege. Weil der Druck so stark ist, denken Sie nur an die Kriegsregionen. Denken Sie an Afghanistan, von wo so viele Flüchtlinge stammten, die zuletzt auf dem Schiff vor Kalabrien untergegangen sind. Wer will schon bei den Taliban bleiben?

Denken Sie an die Frauen und Jugendlichen, die dort keine Zukunft dort haben! Dann ist da der Klimawandel, der das Leben in vielen Regionen unerträglich macht. Migration wird uns in den nächsten Jahrzehnten weiter massiv beschäftigen; da ist es doch viel sinnvoller, sie geregelt zu steuern als ungeregelt der Willkür auszusetzen und damit Kriminalität Tor und Tür zu öffnen.

DOMRADIO.DE: Was wären denn verbindliche Grundsätze, damit Menschen auf der Flucht in solchen Aufnahmelagern tatsächlich auch menschlich behandelt würden?

Leineweber: Das ist die große Frage und die muss man stellen: Welche Kriterien werden angesetzt, welche Verfahren werden durchgeführt? Wer führt die Verfahren durch? Was sind das überhaupt für Orte? Ist das EU- Gebiet? Wie wird das Zusammenleben dort gestaltet, wer übt die Kontrolle aus?

Wir wissen, dass in vielen Camps schreckliche Zustände herrschen, in Libyen zum Beispiel. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die EU selbst Camps organisieren will, in denen dann unmenschliche Zustände herrschen. Das ist sicherlich mit der EU-Charta nicht zu vereinbaren.

DOMRADIO.DE: Welche wichtigen Weichen müssten in Ihren Augen auf dem Flüchtlingsgipfel am Mittwoch gestellt werden?

Leineweber: Ich finde sehr wichtig, dass es diesen Gipfel gibt, dass wir uns zusammensetzen und dass wir schauen, inwieweit wir noch mehr Zusammenarbeit herstellen können zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Behörden. Ich verstehe, dass staatliche Behörden und Kommunen an die Grenzen ihrer Kapazitäten geraten.

Aber es gibt noch unheimlich viel Potenzial! Das haben wir in der Syrienkrise 2015 erlebt, als unheimlich viele Bürger mitgeholfen haben. Das erleben wir jetzt wieder, seit Krieg in der Ukraine herrscht. Ich glaube, dieses Potenzial müssen wir noch stärker nutzen, wir müssen stärker überinstitutionell denken. Das ist sehr wichtig.

Das Interview führte Dagmar Peters.

(domradio – mg)

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09. Mai 2023, 10:51