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Dagmar Fenner: Hochsensibilität Dagmar Fenner: Hochsensibilität 

Buchtipp: Hochsensibilität und die Philosophie

Menschen, die gemeinhin als zart besaitet oder gar Sensibelchen bezeichnet werden, haben es in unserer Gesellschaft nicht einfach. Reize und Stimmungen sind durch Medien, Werbung und somit an jeder Straßenecke in Überfluss zu finden. Die Schweizer Philosophin Dagmar Fenner hat dazu ein persönlich bezogenes und gleichzeitig wissenschaftlich fundiertes Buch geschrieben. Wir sprachen mit ihr.

RV: Hochsensible Menschen stehen vor einer besondere Herausforderung: Umweltbezogene Details werden bewusst stärker wahrgenommen, also zum Beispiel Geräusche und Lichter. Sinnesreize werden intensiver verarbeitet. Gefühlsreaktionen wie Trauer, Freude oder Mitgefühl sind stärker ausgeprägt. Wie empfinden Sie die heutige Welt? Gerade in unserer westlichen Kultur spielen Reize eine wichtige Rolle.

Dagmar Fenner*: Ja, die Reizüberflutung und die hohe Geschwindigkeit, in der sich Reize jagen, ist für die moderne Welt typisch und sie ist nicht nur für hochsensible Menschen ein Problem, aber für sie ein besonderes großes. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es allerdings einen Beschleunigungsschub, der bei vielen zu einer Überforderung führte. Man hatte dies Neurasthenie oder Nervenschwäche bezeichnet. Menschen in Großstädten beklagten sich über Lärm und Gestank, der sich mehrenden Autos; es kamen Telegrafie, Rundfunk und schließlich die Digitalisierung. Wir stehen heute unter großem Druck, ständig online zu sein und keine Nachricht auf irgendeinem Kanal zu verpassen. Die Aufmerksamkeit wird abgelenkt durch überall aufploppende Werbung, Empörungswellen und eine Flut an Informationen.

Hier das Interview mit der Philosophin Dagmar Fenner

„Hochsensible weisen nämlich eine höhere Empfindlichkeit für innere und äußere Reize auf und eine gründliche und länger andauernde Informationsverarbeitung.“

RV: In Ihrem Buch „Hochsensibilität“ behandeln Sie dieses Thema aus phänomenologischer und ethischer Sicht. Sie selber haben Ihre eigene Hochsensibilität vor einigen Jahren entdeckt. Was ist da genau darunter zu verstehen?

Fenner: Hochsensibilität gilt als eine Persönlichkeitseigenschaft oder eine charakterliche Grunddisposition, die das Leben eines Menschen stark prägt, sie ist zurückzuführen auf eine andere Funktionsweise des Gehirns als bei normal sensiblen. Hochsensible weisen nämlich eine höhere Empfindlichkeit für innere und äußere Reize auf und eine gründliche und länger andauernde Informationsverarbeitung, dadurch kommt es zu stärkeren und länger nachwirken den Eindrücken aber auch zu einer schnelleren Überreizung oder Überstimulation, also, wenn das Gehirn überfordert ist mit zu vielen ein strömenden reizen.

RV: Weshalb haben Sie die „Hochsensibilität“ philosophisch und nicht psychologisch-medizinisch untersucht?

Fenner: Dafür gibt es zunächst einen persönlichen Grund, ich bin von Haus aus Philosophin, genauer gesagt Ethikerin, sodass die Perspektive auf das Thema quasi durch die Ausbildung vorgegeben ist. Psychologische und medizinische Studien gibt es zudem schon sehr viele, auch wenn noch lange nicht alles genügend empirisch erforscht ist. Auch neurowissenschaftlich ist das nicht der Fall. So gibt es aber noch überhaupt nicht geisteswissenschaftliche Studien dazu, sodass ich hier einen Anstoß geben wollte für philosophische, kulturwissenschaftliche, pädagogische Fragestellungen und Forschungsarbeiten, bei denen das Phänomen der Hochsensibilität in einen größeren gesellschaftlich-kulturellen Kontext gestellt wird.

Als Ethikerin interessieren mich vor allem die beiden ethischen Grundfragen: Können Hochsensible unter den Bedingungen der Moderne überhaupt glücklich werden und was müsste die Gesellschaft aus Gründen der Gerechtigkeit und Chancengleichheit dafür tun?

„Insbesondere akustisch extrem Sensibilität, wie bei mir selbst, erleben das Treiben in Straßenbahnen im Supermarkt oder in Großraumbüros als wahre Folter und sie sind danach völlig ausgelaugt und brauchen eine lange Erholungsphase.“

RV: Und wie gehen Sie damit um? Ist Ihnen Ihre Hochsensibilität eine Last?

Fenner: Ich versuche, wie die meisten hochsensiblen Menschen, sowohl die positiven als auch negativen Seiten der Hochsensibilität zu sehen. Aber ja, in einer lauten, grellen und hektischen Welt ist diese besondere Art der Reizverarbeitung häufig hinderlich. Es gibt ja verschiedene Dimensionen der Hochsensibilität, zum Beispiel die sensorische, insbesondere akustisch extreme Sensibilität, wie bei mir selbst. Damit erleben Sie das Treiben in Straßenbahnen im Supermarkt oder in Großraumbüros als wahre Folter, sind danach völlig ausgelaugt und brauchen eine lange Erholungsphase. Im kognitiven Bereich ist es halt so, dass Hochsensible enorm viel Zeit mit vor- und nachbereiteten Nachrichten oder Ereignissen verbringen. Es ist dann schon oft frustrierend zu sehen, wie andere Menschen mit Leichtigkeit von einem Termin zum anderen hetzen und schnell umschalten können. Im emotionalen Bereich leiden viele unter Stimmungsschwankungen, weil sowohl euphorische Gefühle, als eben auch Enttäuschungen extrem stark empfunden werden.

RV: Sie schließen Ihr Buch nach einem Motto: „Es gibt keine falsche Blume, sondern nur eine falsche Umwelt für eine Blume.“ Wie soll die (Um)welt mit Hochsensiblen umgehen?

Fenner: Tatsächlich ist es mein Eindruck, dass es sehr stark von den vorgefundenen Umweltbedingungen und dem sozialen Umfeld abhängt, ob hochsensible Menschen glücklich oder unglücklich werden auf dieser Welt. Ganz entscheidend sind schon Elternhaus und schulische Sozialisation. Ob Hochsensible in sich selbst vertrauen und die Welt mit aufbauen können, hängt davon ab, ob sie mit ihrer andersartigen Charakteranlage auf Verständnis und Unterstützung stoßen oder ob sie ständig mit flotten Sprüchen zur Anpassung und zur Abhärtung aufgefordert werden.

In der Arbeitswelt helfen Hochsensibeln Einzelbüros und Möglichkeiten von Homeoffice. Also, für mich selbst bedeuten Zoom-Seminare und Tagungen während der Corona-Zeit eine enorme Entlastung, vor allem, weil die Reisen dann entfallen. Hochsensible haben auch große Probleme mit Wettbewerbsdenken und dem gesellschaftlichen Ideal des flexiblen, belastbaren, leistungsfähigen und extrovertierten Menschen. Im Grunde werden insgesamt andere Wertmaßstäbe wünschbar, also wenige außenorientierte wie Erfolg und Karriere, stattdessen wird der Fokus auf mehr Lebensqualität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit gelegt.

RV: Beim Lesen Ihres Buches habe ich an Papst Franziskus gedacht: Dass er hochsensibel für menschliche Leiden und Nöte ist, ist allgemein bekannt. Welche Rolle spielt denn Religion und Spiritualität bei Hochsensiblen?

Fenner: Für viele Hochsensible spielt Spiritualität oder Religiosität tatsächlich eine große Rolle in ihrem Leben. Die meisten suchen nach einem tieferen Sinn und Zusammenhang im großen Ganzen, denn sie neigen zu einem holistischen, das heißt ganzheitlichen Denken, und Streben nach Vollkommenheit. Einige sind sogar hellfühlig und berichten von übersinnlichen Erscheinungen. Aber auch säkular eingestellte Hochsensible sind meist sehr empathisch und haben immer ein offenes Ohr für Menschen, die in Not sind. Sie verfolgen hohe ethische ideale wie Frieden und Gerechtigkeit und möchten das Leid auf der Welt verringern, dass sie so intensiv wahrnehmen.

Die Fragen stellte Mario Galgano.

Details für den Bucherwerb:

Dagmar Fenner: Hochsensibilität – Phänomenologische und ethische Überlegungen, erschienen im Schwabe-Verlag 2021.

* Dagmar Fenner ist Titularprofessorin für Philosophie am Departement Künste, Medien, Philosophie der Universität Basel und lehrt Ethik an verschiedenen deutschen Universitäten. Sie ist Autorin zahlreicher philosophischer Bücher z. B. über Glück, Kunst oder Selbstoptimierung (vgl. www.Ethik-Fenner.de) und Musikerin (Kontrabassistin).

(vatican news)

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12. Februar 2022, 12:58