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Das Fastentuch im Stephansdom im Februar 2021 Das Fastentuch im Stephansdom im Februar 2021 

Österreich: „Bedeutung von Religion wird wachsen“

Unter dem Eindruck vielfältiger Bedrohungen durch Pandemie, Migration, Kriege, Armut und Umweltkatastrophen wird die Bedeutung von Religion zunehmen. Davon ist der Wiener Theologe und Werteforscher Paul Zulehner überzeugt.

Er gehe davon aus, „dass das Gewicht der Religionen rasch wachsen wird, nicht zuletzt, weil dem politischen Pragmatismus die Hoffnungsressourcen auszugehen drohen“. Das sagte er am Wochenende in einem Interview mit der „Kleinen Zeitung“.

In die derzeit angespannte Weltlage hinein hätten Religionsführende gemeinsam zum schonenden Umgang mit der verwundeten Schöpfung aufgerufen. All diese Weltthemen habe auch Papst Franziskus in seinen Enzykliken zu Schöpfung und Geschwisterlichkeit, Laudato si und Fratelli tutti, aufgegriffen.

„Manchmal noch verstohlen“

Nicht alle, aber immer mehr Mächtige hörten, „manchmal noch verstohlen“, auf die unverbrauchte Weisheit der Religionen. Sie sei „für das Überleben der Menschheit wertvoller denn je“, erklärte der Religionssoziologe. Nicht zuletzt seien Religionen auch Quelle von Vertrauen, dass die Völker der Erde es gemeinsam schaffen.

Zugleich äußerte Zulehner hohe Wertschätzung für das, was „säkulare“ Kräfte leisten - in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Bildung oder Kultur. Aber es gebe darüber hinausgehende existenzielle Fragen nach dem Woher, Wohin und Sinn des Lebens, „die im Überangebot untergehen“. In der heutigen bunten weltanschaulichen Landschaft Europas ohne den früheren Automatismus, Christ bzw. Christin zu sein, gebe es immer mehr Menschen, die danach trachten, in ihrer mäßigen Lebenszeit „maßlos glücklich“ zu werden. Dabei könne sich untergründig die Angst einstellen, zu kurz zu kommen, sagte Zulehner. Angst jedoch hemme Solidarität.

Die Kirchen stünden hier für eine Alternative. Nämlich: Der Tod ist nicht das Ende, es folgt eine neue, von Liebe geprägte Existenz. Wer darauf setzt, könne sich „mit den Fragmenten des Glücks abfinden, weil dieses Leben nicht alles gewesen sein wird“, und das knappe Glück eher mit anderen teilen. Ganz praktische Auswirkungen hat dies nach Einschätzung des Theologen in der aktuellen Frage der Suizidbeihilfe: Rein „Diesseitige“ würden - anders als „Jenseitshoffende“ - Leid am Ende des Lebens vermeiden wollen und nach Hilfe bei einer vorgezogenen Beendigung des Lebens suchen.

Lockdown: Geschlossenes Straßencafé in Wien am 23. November
Lockdown: Geschlossenes Straßencafé in Wien am 23. November

Pandemie und geändertes Lebensgefühl

Auf die Frage, ob die von Polarisierung begleitete Pandemie das Lebensgefühl und das Wertegerüst der Menschen verändert hat, antwortete Zulehner, heute stünden „Freiheitsbesorgte den Gerechtigkeitsbesorgten gegenüber“. Solidarischen mit den auf Intensivstationen um ihr Leben Ringenden stünden jene gegenüber, die die Freiheit des Lebens, Arbeitens und der Bildung nicht aufgeben wollen.

Es sei nicht gut für die Gesellschaft, wenn der Streit um diese Werte sprachlich oder physisch gewalttätig wird. „Alle müssen lernen, dass die Werte nie in Reinkultur realisiert werden können, sondern nur in abwägenden Kompromissen“, führte Zulehner aus. Unantastbar bleiben sollte jedoch die Würde jedes Menschen bleiben – „vor jeder Leistung und in aller Schuld“.

Nach der Beobachtung des Werteforschers hat die Pandemie das Gefühl der Verletzlichkeit verstärkt; die eigene Sterblichkeit sei vielfach sehr nahe gerückt. Vermehrt hätten sich auch Ängste - um den Arbeitsplatz, vor Denunzianten, auch vor Ignoranten. Gewachsen sei freilich auch die Dankbarkeit.

Ausstrahlende Minderheit werden

Zugleich sei an den Daten über bekennende Christen offenkundig, dass es in Europa eher suchende „Pilger“ als angekommene „Entschiedene“ gebe. Viele seien - mit den Worten des Prager Religionssoziologen Tomas Halik – „Etwasisten“: Irgendetwas Höheres wird es schon geben. Papst Franziskus habe mit seiner Aussage recht, dass sich die Kirche nicht in einer Ära des Wandels befindet, sondern im Wandel einer Ära. „Es geht also nicht um kleine Änderungen, die mit zaghaften Reförmchen gemeistert werden könnten“, so Zulehner. In der gegenwärtigen Übergangszeit habe es „wenig Sinn, jammernd von 100 Prozent herunterzurechnen, die es so wohl nie gegeben hat“.

Es brauche in der Kirche Freude über alle einzelnen, die sich der Bewegung anschließen, die Jesus selbst ausgelöst hat, „damit es - wie die Präfation von Christkönig singt - mehr Gerechtigkeit, Freude und Frieden auf der Welt gibt und die Schöpfung bewahrt bleibt“. Zulehner geht wieder vom „biblischen Normalfall“ einer Minderheit aus, bei dem Jesus die Gläubigen als „Licht für die Welt“ bezeichnete. „Dabei bleibt entscheidend, dass die Kirche das Licht Christi nicht missbräuchlich verdunkelt und das Kirchenleben schmackhafter wird.“

(kap – sk)
 

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29. November 2021, 09:53