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Der emeritierte Erzbischof von Hamburg, Werner Thissen, im Interview - foto Michael Bönte, Kirche+Leben Der emeritierte Erzbischof von Hamburg, Werner Thissen, im Interview - foto Michael Bönte, Kirche+Leben 

D: Emeritierter Erzbischof räumt schwere Fehler im Umgang mit Missbrauch ein

Der emeritierte Erzbischof von Hamburg, Werner Thissen, hat in einem Interview schwere Fehler im Umgang mit sexuellem Missbrauch aus seiner Zeit als Verantwortungsträger im Bistum Münster eingeräumt. Vor seiner Berufung nach Hamburg 2003 hatte Thissen mehr als 20 Jahre Personalverantwortung im Bistum Münster getragen.

Von 1978 bis 1986 war er als Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Bischöflichen Generalvikariat in Münster für den Priester-Einsatz zuständig. Von 1986 bis 1999 war er Generalvikar und damit Stellvertreter des Bischofs. 1999 wurde er zum Weihbischof ernannt.

In dem Interview, das in der Ausgabe der Münsteraner Kirchenzeitung „Kirche und Leben“ zum 10. November erscheint, bezeichnet es Thissen als „großen Fehler“, dass er in seiner Zeit als ein Personalverantwortlicher im Bistum Münster „mit den Betroffenen kaum Kontakt“ gehabt habe.

„Wir haben das von uns weggeschoben“

So habe er keine Vorstellung davon gehabt, „was für ein Schaden bei einem jungen Menschen angerichtet wird durch Missbrauch.“ Erst als Erzbischof von Hamburg, als er Betroffenen viele Stunden zugehört habe, sei ihm klar geworden, „was Missbrauch an Verletzungen und Schaden anrichtet.“ Von daher sei es ihm heute ein großes Anliegen, „das zu tun, was man jetzt tun kann: die Betroffenen hören, die Missbrauchsverbrechen offen legen, weil es für die Betroffenen sehr heilsam ist, zu spüren: Das ist nicht etwas, was wir jetzt auch noch verdrängen und geheim halten müssen, sondern etwas, worüber man sprechen kann. Wichtig finde ich auch, um Entschuldigung zu bitten.“

Für einen weiteren schweren persönlichen Fehler hält es Thissen, „dass mein Vertrauen in die medizinischen, therapeutischen Möglichkeiten überzogen und unrealistisch war.“ Der Fehler habe, das macht Thissen unmissverständlich deutlich, nicht bei dem inzwischen verstorbenen Therapeuten gelegen, sondern bei den Personalverantwortlichen: „Wir haben ihn (den Therapeuten, Red.) ausgenutzt. Wir haben das von uns weggeschoben auf ihn und dort, wo er sich zu viel drum kümmern musste, haben wir zu wenig getan.“

Fehlende Standards professioneller Personalführung

Thissen sieht im Rückblick auch sehr kritisch, wie die Personalkonferenz im Bistum Münster früher tagte: „Es fehlten jegliche Standards professioneller Personalführung.“ Wenn ein Missbrauchsfall mitgeteilt worden sei, seien in der Regel alle Mitglieder der Personalkonferenz informiert worden.

Dann sei besprochen worden, wer aus der Personalkonferenz sich um den Fall kümmern solle. Insgesamt sei das Thema des sexuellen Missbrauchs eher ein „Nischenthema“ gewesen, das die Mitglieder der Personalkonferenz schnell auf den Arzt und Therapeuten abgeschoben hätten. Mitglieder der Personalkonferenz waren damals der Bischof, der den Vorsitz hatte, der Generalvikar, die fünf Weihbischöfe, der Personalreferent und der Regens des Priesterseminars. Es habe im System gelegen, so sagt Thissen, dass die Personalkonferenz für den Umgang mit Missbrauchsfällen zuständig gewesen sei. „Aber sie war dazu gar nicht in der Lage. Da hätten Fachleute dazu gehört“, sagt Thissen.

„Die übereinstimmende Meinung war: Der hat sich doch durch sein Vergehen am meisten schon selbst bestraft“

Vor allem hätte es nach seiner Ansicht „auch einer größeren Distanz zu den Tätern bedurft“. Werner Thissen: „Diejenigen, die des Missbrauchs beschuldigt wurden, waren ja Priester, die wir gut kannten. Da kommt sehr schnell der Mitleidseffekt auf. In einer Personalkonferenz fragte mal jemand: ‚Muss der Täter denn nicht bestraft werden?‘ Die übereinstimmende Meinung war: Der hat sich doch durch sein Vergehen am meisten schon selbst bestraft.“

Randthema in der Priesterausbildung

Kritisch sieht der emeritierte Erzbischof im Interview mit „Kirche und Leben“ auch die damalige Kommunikation: Die Öffentlichkeit sei nicht offiziell über die Fälle informiert worden; auch sei niemand auf den Gedanken gekommen, alle Verantwortungsträger in den Pfarreien zu informieren: „Wir sahen nicht, dass es klare Regeln zur Herstellung von Transparenz geben muss.“ Weder die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen, die heute selbstverständlich ist, noch Präventionsmaßnahmen seien im Blick gewesen.

Und da sexueller Missbrauch in der Öffentlichkeit und der Gesellschaft kein Thema gewesen sei, sei er auch in der Priesterausbildung „eher ein Randthema“ gewesen: „Natürlich hatte jeder zu wissen aus der Moraltheologie, wo Grenzen sind im Umgang mit anderen“, so Thiessen. „Das wurde in der Priesterausbildung thematisiert, aber es war mehr ein theoretisches, abgehobenes Thema. Dass es diejenigen, die in der gemeinsamen Priesterausbildung am Tisch saßen, direkt betreffen könnte, wurde weniger thematisiert.“

Bischof Genn dankbar für Offenheit

In einer Stellungnahme zu dem Interview betont der heutige Bischof von Münster, Felix Genn, dass Betroffene immer wieder sagten, wie „wichtig es für sie ist, zu erfahren, wer von den damaligen Verantwortungsträgern dafür zuständig war, dass die Taten sexuellen Missbrauchs nicht an die Öffentlichkeit kamen und nicht unter Beachtung der Interessen der Betroffenen bearbeitet wurden, so dass Priester, die Kinder und Jugendliche missbraucht hatten, weiter als Priester tätig sein konnten.“ Denn damit sei überhaupt erst die Möglichkeit geschaffen worden, dass „Priester weiter Kinder und Jugendliche missbrauchen konnten.“ 

Werner Thissen bekenne sich nun zu seinen Fehlern und zu seiner Verantwortung, wofür er ihm „dankbar“ sei, so Genn weiter. Er hoffe, dass eine „solche Verantwortungsübernahme für Betroffene hilfreich und ein wichtiges Signal“ sein könne: „Werner Thissen wirft ein ungeschminktes Licht darauf, wie die Verantwortungsträger im Bistum Münster damals entschieden haben. Dass dabei, wie es Werner Thissen selbst sagt, die Betroffenen nicht im Blick waren, bleibt für uns heute unverständlich“, zeigt sich Bischof Genn betroffen. Seine Bitte um Entschuldigung könne nur darin bestehen, auch in der Vergangenheit liegende Fälle mit größtmöglicher Trasparenz und externer Unterstützung aufzuarbeiten und zukünftigen sexuellen Missbrauch zu verhindern. Dabei sei es unabdingbar, die Interessen der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen. Auch über neue „Formen der Partizipation und eine Umverteilung von Macht und Einfluss in unserer Kirche" müsse nachgedacht werden, so Genn.

(bistum münster - cs)

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06. November 2019, 11:55