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Dammbruch in Brasilien: Jede Katastrophe besteht aus Einzelschicksalen

„Das Einzelschicksal der Betroffenen geht mir sehr nahe.“ Das sagt im Interview mit Vatican News Regina Reinart, Lateinamerika-Beauftragte des katholischen Hilfswerks Misereor, angesichts der Tragödie von Brumadinho. Nach dem jüngsten Staudammkollaps in Brasilien reißen die Schreckensmeldungen nicht ab. In zwei weiteren gefährdeten Zonen wurden in der Zwischenzeit, weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, Evakuierungen angeordnet.

Christine Seuss - Vatikanstadt

Ende Januar waren bei einem katastrophalen Dammbruch im Bundesstaat Minas Gerais über 160 Menschen getötet worden, 155 werden derzeit noch vermisst. Die Hoffnung, noch einen von ihnen lebend aus dem Schlamm zu ziehen, geht gegen Null. Und nun die nächste Schreckensnachricht: An diesem Samstag wurden die Menschen im Ort Macacos durch die Sirene des dortigen Bergwerkes aufgeschreckt, etwa 200 Bewohner wurden von der Betreiberfirma Vale (die auch das Unglücksbergwerk in Brumadinho betreibt) evakuiert. Wir fragten die Misereor-Expertin nach der aktuellen Lage vor Ort.

„Am vergangenen Samstag habe ich Nachricht bekommen von dieser Ortschaft Macacos; dort wurden nachmittags, kurz vor der Dunkelheit, über 200 Menschen evakuiert. Ihnen wurde gesagt, sie würden in Hotels gebracht werden, das hat aber nicht gestimmt, sondern sie haben die Nacht draußen im Regen verbracht, darunter auch Kinder und ältere Menschen. Die Kommunikation ist in diesen Situationen das A und O, die hat aber nicht stattgefunden, auch Journalisten hatten keinen Zugang zu der Region. Vale hat blockiert, es war ein großes Chaos und momentan weiß ich auch nicht, ob die Menschen wieder in ihre Häuser zurückkehren konnten.“

„Nach den Evakuierungen lebt die Bevölkerung jetzt in konstanter Panik“

Der jüngste Zusammenbruch eines Dammes in Brumadinho hat ein Schlaglicht auf die desolaten Zustände der Rückhaltebecken in Brasilien geworfen. Diese sind fast ausnahmslos mit qualitativ minderwertigen, aber dafür kostensparenden Methoden errichtet worden. Wie ernst die Situation ist, beweist auch die Nervosität des Bergwerkbetreibers, bestätigt uns die Misereor-Expertin:

„Ja, in Brumadinho ist der Dammbruch am 25. Januar passiert. In Macacos, unweit von Belo Horizonte, der Hauptstadt von Minas Gerais, gab es am vergangenen Samstag diesen Alarm. Am 8. Februar wiederum gab es auch einen Alarm in zwei Ortschaften, die eine ist in Itaitiaiuçu und die andere in Barão de Cocais. Das sind zwei Ortschaften in einer historisch wichtigen Region, 80 Kilometer von Belo Horizonte. Dort gibt es große Goldvorkommen, bereits Mitte des 18. Jahrhunderts wurde hier geschürft. Dort gingen die Sirenen, und die Familien mussten ihre Häuser evakuieren. Auch hier ist es so, dass Kinder, kranke und alte Menschen nicht wussten, ob es sich um einen Dammbruch oder einen Probealarm handelte. Und das ist das Schlimmste. In diesen beiden Fällen ist es so, dass Vale noch bis 2016 die Minen betrieben hat, sich jetzt wohl in der Verantwortung sieht und mit diesem Sirenenalarm die Bevölkerung aufscheucht. Die durfte dann wieder nach zwei Tagen in ihre Häuser zurück, lebt aber seitdem natürlich in konstanter Panik.“

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Die Spätfolgen werden bleiben

Auch der Gesetzgeber sei hier in die Pflicht zu nehmen, betont Reinart. Denn Dämme bis zu einer Höhe von 15 Metern müssen nach aktueller Gesetzeslage in unregelmäßigeren Abständen geprüft werden als diejenigen, die höher sind. Dennoch hält auch diese kleinere Art von Dämmen mehrere Millionen Kubikmeter verseuchten Schlamm zurück – eine angekündigte Katastrophe, die im Fall des Zusammenbruchs den Lebensraum von zahlreichen Menschen, darunter indigene Völker, nachhaltig zerstören würde. Ähnliches zeigte sich bereits im Fall von Mariana vor drei Jahren – und auch im Fall von Brumadinho werden mittlerweile die langfristigen Ausmaße der Zerstörung deutlich.

„Ja, die Spätfolgen werden bleiben, so wie auch in Mariana. Der Schlamm hat auch den Fluss Sao Francisco schon erreicht, und das dort lebende Volk der Indigenen ist bereits vom Flussufer evakuiert worden. Die Schäden werden Jahrzehnte bleiben, damit müssen wir rechnen, und auch unsere Projektlandschaft muss sich entsprechend anpassen, wie wir das auch im Fall Mariana machten.“

„Die Schlammwüste in Brumadinho ist ein Massengrab“

Besonders schmerzlich für die betroffene Bevölkerung: Immer noch liegen zahlreiche Menschen unter den Schlammmassen begraben. Es handele sich bei der Ebene um ein wahres „Massengrab“, betont Regina Reinart:

„Durch die Hitze fängt das mittlerweile auch an zu riechen, Tiere und Menschen sind dort bei lebendigem Leib begraben worden, und jetzt muss der Schlamm abgetragen werden. Der abgetragene Schlamm wird übrigens in ein Naturschutzgebiet überführt. Die Komplexität dieses Falles Brumadinho/Mariana ist sehr bedenklich.“

Die Autoindustrie hängt mit drin...

Auf eben diese Komplexität hinzuweisen, aber auch die Verwicklungen europäischer Industrien aufzuzeigen und politische Verantwortungsträger zu erreichen, das ist nun die Priorität des Hilfswerkes und seiner Partner vor Ort:

„Derzeit sind unsere Kollegen in Berlin bei Besprechungen, und wir werden vielleicht auch direkt Betroffene nach Deutschland einladen, damit sie hier die Situation schildern. Unsere Autoindustrie hängt natürlich mit drin. Über die Hälfte des importierten Stahlerzes kommt aus Brasilien, und insofern müssen wir uns auch fragen, wie wir mit solchen Ressourcen umgehen. Die Menschenrechtsverletzungen vor Ort dürfen wir nicht ignorieren.“

„Diesem Kind muss man in einigen Jahren erklären, wo seine Mama geblieben ist“

Denn jenseits der erschreckenden Zahlen sei doch eines besonders wichtig: Jedes der Opfer habe seine Geschichte und seine trauernde Familie. Damit lenkt die Misereor-Referentin den Blick auf die menschlichen Tragödien, die dem Versagen und der Skrupellosigkeit von Verantwortlichen aus Industrie und Politik geschuldet sind:

„Wissen Sie, die Einzelschicksale gehen mir sehr nah. Der 25. Januar war der erste Tag einer jungen Brasilianerin, die von ihrem Chef gebeten worden ist, früher aus dem Mutterschutz zurückzukommen. Sie ließ ihr vier Monate altes Baby bei ihrer Mutter und ging an dem besagten Freitag arbeiten – es war auch ihr Todestag. Diesem Kind muss man in einigen Jahren erklären, wo seine Mama geblieben ist.“

(vatican news)

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