Aus Seenot gerettete Migranten werden im Juni auf die griechische Insel Mykonos gebracht Aus Seenot gerettete Migranten werden im Juni auf die griechische Insel Mykonos gebracht 

Immer neue Flüchtlingsdramen im Mittelmeer

Auch in diesem Sommer versuchen immer wieder Migranten, per Schiff oder Boot die europäische Küste zu erreichen –teilweise mit dramatischen Folgen.

Giancarlo La Vella und Stefan von Kempis – Vatikanstadt

Seit einem Schiffsunglück vor der griechischen Insel Karpathos, in einem Meeresarm zwischen Kreta und Rhodos, werden Dutzende von Menschen vermisst. Dreißig konnten gerettet werden. Das Boot mit bis zu achtzig Migranten an Bord war offenbar in der Gegend von Antalya an der Südküste der Türkei in See gestochen und auf dem Weg nach Italien, als es in der Nacht in Schwierigkeiten geriet. Viele der Schiffbrüchigen trugen keine Rettungswesten.

Die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ist inzwischen eine alternative Route zu der üblichen von Afrika nach Lampedusa und Sizilien; sie kostet viele Menschen, die vor Krieg und Elend fliehen, das Leben. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration sind seit Januar dieses Jahres mindestens 64 Menschen im östlichen Mittelmeer gestorben. Auf der griechischen Insel Samos hat das Gesundheitszentrum von „Ärzte ohne Grenzen“ in diesem Jahr bei mindestens 570 Migranten Notfallhilfe und psychologische Betreuung geleistet. Viele der neu gelandeten Flüchtlinge verstecken sich im Busch, um nicht in die Türkei zurückgeschickt zu werden, und bleiben so tagelang ohne Nahrung und Wasser.

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Papst Franziskus bei Migranten auf der Insel Lesbos, Dezember 2021
Papst Franziskus bei Migranten auf der Insel Lesbos, Dezember 2021

„Migration ist mittlerweile ein strukturelles Phänomen, kein außergewöhnliches Ereignis“

„Ich glaube, dass es nach Jahren der Beobachtung von Ankünften und Schiffbrüchen an der Zeit ist, diesen ganzen Prozess zu systematisieren.“ Das sagt der Jesuitenpater Camillo Ripamonti, Direktor des „Centro Astalli für Flüchtlinge“ in Rom, in einem Interview mit Radio Vatikan. „Man sollte nicht mehr von einem außergewöhnlichen Ereignis sprechen, sondern sich bewusst machen, dass Migration inzwischen ein strukturelles Phänomen ist. Deshalb müssen wir es als solches angehen und uns als Europa entsprechend organisieren, indem wir die Bewältigung des Phänomens nicht einzelnen Staaten überlassen, sondern es als Europa angehen und jeder dann seinen Teil der Verantwortung übernimmt.“

Der x-te Schiffbruch auf den Routen durch das Mittelmeer geschah tatsächlich nach dem immer gleichen Drehbuch, wie wir es seit Jahren kennen: Pflichtbewusste Rettung auf See, erste Aufnahme, und dann die Rückführung von Migranten. Oder aber ihr Aufenthalt im Ankunftsland, aber ohne Zukunftsperspektive. Der Jesuit würde sich – auch wenn in Italien gerade der Wahlkampf anläuft und Migration für Populisten ein dankbares Thema ist – entschlossenere Maßnahmen zur Vermittlung von Arbeitsplätzen und zur sozialen Eingliederung von Migranten wünschen, die ankommen und legalisiert werden.

Salvini (mit Badehose) bei einem Lampedusa-Besuch Anfang August
Salvini (mit Badehose) bei einem Lampedusa-Besuch Anfang August

Gegen eine „Invasionsrhetorik“

„Auch hier fehlt es noch an dem Bewusstsein und dem politischen Willen, dass das Migrationsphänomen aus mehreren Teilen besteht: die Abreise der Menschen und damit die Sicherheit auf der Reise; dann, wenn diese Menschen ankommen, auch die Prozesse der Begleitung, Integration und Eingliederung in dem Gebiet, in dem diese Menschen ankommen. Wir haben in den letzten Monaten gesehen, dass es durchaus einen Bedarf an Menschen gibt, die Italienern bei ihrer Arbeit helfen. Wir sollten also mit der Invasionsrhetorik aufhören und uns stattdessen mit der Integration befassen. Mit einer zunehmend pluralen Gesellschaft, in der die Menschen, die ankommen, sich integrieren müssen, aber auch diejenigen, die sie aufnehmen, eine integrative Perspektive haben müssen.“

„Invasionsrhetorik“: Diese Bemerkung dürfte auf Matteo Salvini zielen. Der Parteichef der rechtsgerichteten „Lega“ rechnet sich Chancen aus, nach den Parlamentswahlen von Ende September wieder ins Innenministerium einzuziehen. Das dürfte eine Neuauflage seiner Politik der Hafensperrungen für Flüchtlingsretter bedeuten. Für NGOs und alle, die Migranten helfen wollen, war das ein rotes Tuch; doch hat sich Italiens abweisende Politik gegenüber Seenotrettern auch unter der Ägide von Ministerpräsident Mario Draghi, der im September abtritt, nicht wesentlich geändert.

Migranten auf Lampedusa
Migranten auf Lampedusa

Keine Migranten zweiter Klasse

Dass weiterhin Menschen vor Krieg und Elend in Richtung des „gelobten Landes“ Europa aufbrechen, sollte niemanden wundern, findet Pater Ripamonti.

„Die Pandemie der letzten Jahre hat die Situation in diesen Randgebieten der Welt noch schwieriger gemacht. Darüber hinaus erinnert uns der Krieg in der Ukraine jetzt daran, dass es weiterhin überall auf der Welt Kriege gibt – Kriege, vor denen Menschen flüchten, so wie die Ukrainer in hellen Scharen aus ihrem Land geflohen sind. Wir als Staat Italien und als Europa haben durchaus die Ressourcen, um diese Migrationsströme zu bewältigen, aber rhetorisch behaupten wir gern: Nein, wir sind nicht in der Lage, sie aufzunehmen, oder wir müssen sie in ihre Länder zurückschicken, oder wir müssen uns gegen diese Invasionen verteidigen. Es gibt keine Invasionen! Es sind nur Menschen auf der Flucht, die aufgenommen und integriert werden müssen.“

Manche europäische Staaten, die jetzt bereitwillig Flüchtende aus der Ukraine aufnehmen, haben vorher gegen Bootsmigranten Zäune gebaut. Ja, er sehe durchaus die Gefahr, dass es Migranten erster und zweiter Klasse gebe, sagt Pater Ripamonti. Etwa, indem man Kriegsflüchtlinge akzeptiert, aber Wirtschaftsmigranten nicht.

Migranten werden Ende Juli vor der libyschen Küste vom deutschen Schiff Sea Watch 3 aufgenommen
Migranten werden Ende Juli vor der libyschen Küste vom deutschen Schiff Sea Watch 3 aufgenommen

Auch Maßnahmen in den Herkunftsländern sind wichtig

„Die Gefahr besteht darin, dass man vergisst, dass auch diejenigen, die wir als Wirtschaftsmigranten bezeichnen, vor der gravierenden Ungleichheit fliehen, die einen Großteil der Weltbevölkerung in die Knie zwingt – vor der Klimakrise, der Wüstenbildung, den wirtschaftlichen Ungleichheiten, die mit dem Mangel an den notwendigen Ressourcen in vielen Gebieten verbunden sind. In Wirklichkeit gibt es also keine Migranten erster und zweiter Klasse: Alle Migranten fliehen, weil sie in ihrem eigenen Land nicht auf würdige Weise überleben können und sie sollten die Möglichkeit haben, aufgenommen zu werden und in anderen Teilen der Welt ein neues Leben zu beginnen.“

Das meint der Pater aber nicht so, als ob es nicht auch gleichzeitig Maßnahmen in den Herkunftsländern der Migranten bräuchte. Entwicklungshilfen, die dort das Leben verbessern, damit sich langfristig keiner mehr auf die Reise machen muss, um würdig seinen Unterhalt zu fristen.

„Es gibt auch ein Recht auf würdiges Leben im eigenen Land“

„Papst Franziskus hat es mehrfach so formuliert: Es gibt auch ein Recht auf würdiges Leben im eigenen Land. Wir sollten eigentlich jedem das Recht garantieren, in seiner Heimat bleiben zu können, ohne durch Ungerechtigkeit, Klimakrisen oder Kriege gezwungen zu sein, an einen anderen Ort zu gehen, der diese Menschen dann sehr oft nicht aufnehmen will.“

In der globalisierten Welt darf es nach Überzeugung von Pater Ripamonti kein Inseldenken mehr geben: Ein Land, das in Schwierigkeiten sei und nicht mit den anderen mithalten könne, bedeute doch „eine Wunde für alle anderen“.

(vatican news – sk)
 

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12. August 2022, 10:40