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Eine Email aus St. Petersburg

Der Philologe Mikhail Koryshev beklagt, dass Russland und Europa „einander aus den Augen“ verlieren: Das sei „dem Dialog, den es immer gegeben hat und sicherlich immer geben wird bzw. muss, keineswegs förderlich“.

Das schreibt Koryshev, der an der Staatlichen Universität St. Petersburg lehrt, in einer ausführlichen Stellungnahme, die er Radio Vatikan zukommen ließ. Wir dokumentieren den Text hier im vollen Wortlaut. Den Titel und die Zwischenüberschriften haben wir hinzugefügt; für den Inhalt übernehmen wir keine Verantwortung.

Russland: Eine Parabel

„Beginnen möchte ich mit der Parabel aus einer Predigt Pater Ludwik Wiśnewskis OP, einem der Väter der katholischen Renaissance in Russland, die zugleich auch den Kontext anspricht, der nicht nur unsere ostslawischen Zusammenhänge prägt, sondern auch Polen, Ungarn und all die Länder, woher unsere Diaspora in Russland stammt.

„Der Rabbiner schwieg“

‚In einem Schtetl lagen die Juden im Streit, weil sie sich nicht darauf nicht haben einigen können, wie eine Stelle aus der Tora auszulegen sei, wobei viele den eigentlichen Grund des Streites schon mehr oder weniger vergessen hatten. Aber Streit ist Streit, und ein Streit will auch ordentlich geschlichtet werden, und um sicherzugehen, beschloss die Gemeinde, einen gelehrten und weisen Rabbiner einzuladen, dessen Gelehrsamkeit offenbar vonnöten war. Der Rabbiner hatte anderweitig zu tun, aber endlich kam er an einem sonnigen Tag im Schtetl an und erklärte der Gemeinde, in der Synagoge möchten sich alle versammeln, er wolle über den Fall entscheiden. Zur ausgemachten Zeit versammelten sich alle in der Synagoge und waren gespannt, was der Rabbiner sagen würde. Aber der Rabbiner schwieg, und die Gemeinde wartete. Die Zeit verging, und es wurde der Gemeinde nicht wohl zumute, einige wussten nicht mehr Enttäuschung und Unmut zu verbergen... Und da fängt der Rabbiner an, ein Liederle vorzusingen, und der Gesang wird immer lauter, und sieh: Nun singt die ganze Gemeinde mit. Der Rabbiner fängt an zu tänzeln, und bald tanzt die ganze Gemeinde mit, und niemand erinnert sich mehr an den Streit.‘

„Nur gemeinsames Tun und nicht leeres Gerede wird einmal die Lage retten“

Natürlich klingt für manches Ohr diese Parabel naiv, aber für uns sehr weise: Viele Völker, viele Sitten, auch viele Konflikte. Entschieden hat man die meisten Konflikte nicht durch lange Zwiegespräche, sondern durch gemeinsames Tun, wenn nötig durch einen Neuanfang, wobei zwei Sachen niemand gewagt hat, aus den Augen zu verlieren: Glaube und Bildung, denn es ist kein Zufall, dass sich die Gemeinde in der Parabel in der Synagoge versammelt hat und auf das Urteil des Rabbiners wartet. Zu bedenken ist aber, dass sich der Rabbiner im Schtetl nicht gleich einfindet und sich Zeit lässt. Für uns bedeutet dieser Umstand, dass vielleicht auch einige Zeit vergehen muss, bis ein solcher Neuanfang möglich ist. Aber nur gemeinsames Tun und nicht leeres Gerede wird einmal die Lage retten, und nur dieses gemeinsame Tun wird allen über das Leid hinweghelfen.

Nicht zu vergessen ist der ökologische Ansatz, der vom Papst immer wieder betont wird: Auch die ostslawische Welt ist ein ökologisches System, so dass es irreführend wäre, zu glauben, dass westeuropäische und transatlantische Modelle ganz ohne Weiteres hier einpfropfbar wären: Gerade in den Kontexten, wo vieles so ähnlich zu sein scheint, sind kleine Differenzen wichtig, und es bedarf viel Umsicht und Vorsicht im Geduld damit, sonst zerstört man nicht nur die Welt derer, denen man gerne zum Glück verhelfen möchte, sondern man bedrohe auch die eigene Existenz, darüber haben wir ja alle bei Max Frisch in seinem ‚Homo faber. Ein Bericht‘ gelesen.

„Der Mut, in Russland zu bleiben“

Hier und da lese ich darüber, dass viele Akademiker auf der Flucht sein sollen oder wollen. Ich sehe das anders. Zurzeit gehört aus meiner Sicht viel mehr Mut dazu, in Russland zu bleiben, seinem Beruf nachzugehen und weiterzumachen, nicht deswegen, weil man etwa verfolgt wird, sondern deswegen, weil Europa aus unserer Perspektive verschwindet und wir für Europa gar nicht mehr existent sind, und wenn für Calderón in seinem ‚Leben ist nur ein Traum‘ Polen noch ganz außerhalb der europäischen Zivilisation liegt, so hat sich nun diese Grenze nur ein wenig verschoben, obwohl Russland stets bemüht war, sich am Projekt Europa zu beteiligen: Vieles hat die Pandemie mit ihrem Maskenvorhang zerstört, und nun verlieren Russland und Europa einander aus den Augen, was dem Dialog, den es immer gegeben hat und sicherlich immer geben wird bzw. muss, keineswegs förderlich ist. Aber ich gebe nicht auf und hoffe, dass sich an dieser Konstellation bald so manches ändern wird.

„Und nun stehen unsere Verwandten auf verschiedenen Frontseiten“

Wir haben es schwer, seit Jahrzehnten bedrückt uns so manches in unserer ostslawischen Welt, und nun stehen unsere Verwandten auf verschiedenen Frontseiten, viele von uns wissen nicht, wie es ihren Nächsten geht, viele von uns wissen nicht, wie und ob überhaupt unsere Jungs aus ihrem Einsatz nach Hause zurückkehren würden, aber wir klagen nicht, denn mit ‚Nur nicht klagen, weitermachen und auf Gott schauen‘ haben unsere baltischen, polnischen, ungarischen, ukrainischen, weißrussichen und deutschen Vorfahren alle Schicksalswendungen überstanden, nun sind wir daran, wir stehen zu unserem Land, wie es unsere Vorfahren taten, weil Russland unsere Heimat ist, eine zweite hat man ja bekanntlich nicht, und hoffen, dass Gott, auf den wir schauen, uns doch so bald wie möglich die Wege des gemeinsamen Tuns weisen wird.

Herzliche Grüße nach Rom,
Mikhail Koryshev“

(vatican news – sk)
 

 

 

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02. Juni 2022, 17:21