Blick auf Santiago de Chile Blick auf Santiago de Chile 

Chile: Die Qual der Wahl

Bekommt Lateinamerika einen zweiten Bolsonaro? Am Sonntag fällt in Chile in der Stichwahl die Entscheidung über das Präsidentenamt. Kandidaten sind der Sozialist Gabriel Boric, der im ersten Durchgang fast 26 Prozent bekam, und der rechtsgerichtete José Antonio Kast, der fast 28 Prozent erreichte.

Kast ist Nachfahre deutscher Einwanderer und findet lobende Worte für die frühere Militärdiktatur von Augusto Pinochet. Im Wahlkampf hat er einen Law-and-Order-Kurs gefahren; das kommt gut an bei Chilenen, die über den Ende 2019 ausgebrochenen sozialen Aufstand beunruhigt sind, oder über gewalttätige Aktionen von Mapuche, Ureinwohnern im Süden des Landes.

„Aggressives Wahlkampfklima“

„Wir haben ein aggressives Wahlkampfklima erlebt“, sagt Fernando Chomali, Erzbischof von Concepción und Vize-Vorsitzender der chilenischen Bischofskonferenz, im Interview mit Radio Vatikan. „Da wurde der politische Gegner abqualifiziert. Uns scheint das kein guter Weg, weil es bei den Menschen Politikverdrossenheit hervorruft und weil es die eigentlich wichtigen Themen aus dem Blick geraten lässt: Armut, Ungleichheit, Korruption, die indigenen Völker.

Erzbischof Chomali
Erzbischof Chomali

Soziale Unruhen

Viele Chilenen sind verunsichert. Bis vor einigen Jahren galt Chile als politisch und wirtschaftlich stabil; seit dem sozialen Aufruhr sind die Rufe nach mehr Sozialstaat unüberhörbar. „Vor allem die Wirtschaft und die Eliten des Landes sind verunsichert“, urteilt die FAZ, „in den vergangenen Monaten ist es zu einer historischen Kapitalflucht gekommen“.

Erste Sitzung des Verfassungskonvents im Juli
Erste Sitzung des Verfassungskonvents im Juli

Wie links wird die neue Verfassung?

Ein per Referendum bestimmtes Gremium soll die noch aus der Pinochet-Zeit stammende Verfassung durch eine neue ersetzen – die könnte deutlich „linker“ ausfallen als die bisherige. Außerdem kämpft Chile mit den Themen Einwanderung und Drogenhandel; die Stimmung in der Gesellschaft ist extrem aufgeheizt.

Der sozialistische Kandidat Gabriel Boric
Der sozialistische Kandidat Gabriel Boric

„Ein Katholik hat die Pflicht, zur Wahl zu gehen!“

Die Bischöfe hoffen trotzdem auf hohe Wahlbeteiligung. „Es stimmt zwar, dass Wählen in Chile freiwillig ist. Aber wir glauben, dass ein Christ, ein Katholik, die Pflicht hat, zur Wahl zu gehen! Denn das ist die Art und Weise, die Demokratie voranzubringen, den Rechtsstaat zu bewahren und zu zeigen, welches politische Projekt aus seiner Sicht fürs Land das Beste ist.“

„Sehr heikler, aber auch sehr interessanter Moment“

Nun stagniert aber die Wahlbeteiligung bei Präsidentenwahlen in Chile in der Regel bei etwa fünfzig Prozent; an der ersten Runde der jetzigen Wahl im November haben nur 52 Prozent der Stimmberechtigten teilgenommen. „Es gibt eine große Politikverdrossenheit“, sagt der Erzbischof dazu, „viele Menschen denken, dass es ganz egal ist, wie sie abstimmen, es ändert sich sowieso nichts. Aber wir sehen das anders: Wir glauben, dass Dinge sich ändern können, wenn es für Personen einen starken Rückhalt in der Bevölkerung gibt.“

Präsidentenwahlen in Chile: Interview von Radio Vatikan mit dem 2. Vorsitzenden der chilenischen Bischofskonferenz

Außerdem erlebe Chile ja derzeit einen „sehr heiklen, aber auch sehr interessanten Moment“, sagt Chomali mit Blick auf das Formulieren einer neuen Verfassung. „Daran können alle Bürger mitwirken und eine Art anthropologisch-ethische Landkarte der Gesellschaft erstellen, die wir uns für die Zukunft wünschen.“

Rechtskandidat Kast
Rechtskandidat Kast

Kast oder Boric

Wird der rechte Politiker Kast in den Präsidentensessel in Santiago gehievt, könnte der Weg zur neuen Verfassung holpriger werden; rückt hingegen der linksgerichtete Boric ins höchste Staatsamt, dürfte das der neuen Verfassung bei der fürs nächste Jahr angesetzten Volksabstimmung wohl zu einer Mehrheit verhelfen.

„Menschen in extremer Armut werden nicht einbezogen“

„Ich bin kein politischer Kommentator“, sagt uns Erzbischof Chomali, „aber was ich sagen kann, ist, dass die Umwälzungen, die Chile derzeit erlebt, von den Menschen gewollt werden. Sie erkennen, dass das Sozial- und Wirtschaftsmodell, in dem wir leben, keine Antwort auf wichtige Sorgen der Leute gibt, was das Bildungs-, das Gesundheitswesen, den Immobilienbereich betrifft. Es stimmt, dass das Land wirtschaftlich stark gewachsen ist; aber es hat sich zugleich nicht als imstande erwiesen, 15 Prozent der Bevölkerung, die in extremer Armut leben, einzubeziehen.“

Demonstration in Santiago im Oktober
Demonstration in Santiago im Oktober

Hoffnung auf Gelassenheit

Das klingt ein bisschen nach einer Präferenz für den sozialistischen Kandidaten. Aber der Vize-Vorsitzende der Bischofskonferenz will natürlich keine klare Wahlempfehlung abgeben. Stattdessen rät er – ganz gleich, welches Ergebnis am Sonntag herauskommt – zu einer gewissen Gelassenheit.

„Lassen Sie uns den neuen Präsidenten mit Vertrauen und Optimismus begrüßen“

„Es gibt allen Grund zur Hoffnung: Chile ist mittlerweile ein Land mit langer und bewährter demokratischer Tradition. Lassen Sie uns den neuen Präsidenten mit Vertrauen und Optimismus begrüßen und uns alle an den großen Veränderungen beteiligen, die das Land verdient. Die Kirche wird ihre Aufgabe der Evangelisierung fortsetzen, sich weiterhin um die Ärmsten kümmern und trotz der Trennung von Kirche und Staat immer bereit sein, bei allem mitzuhelfen, was wir für gerecht und richtig halten.“

(vatican news – sk)
 

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18. Dezember 2021, 12:57