Sauvé überreicht Erzbischof De Moulins-Beaufort den Bericht Sauvé überreicht Erzbischof De Moulins-Beaufort den Bericht 

Frankreich: Erschreckende Zahlen in neuem Missbrauchs-Bericht

Eine unabhängige Kommission hat seit Februar 2019 den kirchlichen Umgang mit Missbrauchsfällen in Frankreich untersucht. Das Ergebnis: Ungefähr 216.000 Minderjährige sind seit den fünfziger Jahren zu Opfern sexueller Übergriffe durch Priester oder Ordensleute geworden. Die Zahl wächst auf etwa 330.000 Opfer, wenn man in den Kreis der Täter auch kirchliche Angestellte einbezieht.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

„Ein Desaster. Was kann man da sagen…“ So reagierte die Vorsitzende des Verbands von Ordensoberen, Schwester Véronique Margron, an diesem Dienstagmorgen auf die Veröffentlichung des Untersuchungsberichts. „Ich spüre große Trauer und Scham… Eigentlich müsste man heute erst einmal schweigen.“

Auf ungefähr 3.000 Täter im Priester- oder Ordensgewand im Lauf der letzten 70 Jahre kommt der Bericht, den der Vorsitzende der Untersuchungskommission, der frühere Richter Jean-Marc Sauvé, bei einer Pressekonferenz an Kirchenverantwortliche übergab. 2.500 Seiten, die der Kirche Frankreichs ein verheerendes Zeugnis ausstellen.

„Die Kirche sollte den Opfern gegenüber ihre Verantwortung für das, was geschehen ist, anerkennen“

Zwar beruht die genannte Zahl der Fälle auf Hochrechnungen, doch bescheinigte selbst der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Éric De Moulins-Beaufort, den Prüfern, sie hätten „formidable Arbeit geleistet“. Die Kommission hatte sich durch die Archive von Bistümern und Staatsanwaltschaften gearbeitet sowie mit Hunderten von Opfern gesprochen – in etwa 26.000 Stunden ehrenamtlichen Einsatzes.

„Die Kirche sollte den Opfern gegenüber ihre Verantwortung für das, was geschehen ist, anerkennen“, forderte Sauvé. „In einer Reihe von Fällen haben Verantwortliche der Kirche Verbrechen nicht angezeigt, ja sogar Kinder Risiken ausgesetzt, indem sie wider besseres Wissen den Kontakt von Tätern zu Kindern nicht unterbunden haben. Vor allem aber gab es ein Ensemble der Nachlässigkeit, des Schweigens, eine Absicherung der Institution – und das hatte systemischen Charakter.“

Véronique Magron spricht von einem Desaster
Véronique Magron spricht von einem Desaster

„Die Kirche hat sich nicht an ihre eigenen Lehren gehalten“

Die Kirche habe jahrzehntelang das Leiden der Opfer nicht sehen wollen; dabei hätten doch schon in den fünfziger Jahren Bischöfe auf den Gedanken kommen können, dass man einen Priester, der Kinder missbraucht, nicht einfach weiter in der Seelsorge einsetzen dürfe.

„Die Kirche hat sich auch, allgemein gesprochen, nicht an ihre eigenen Lehren gehalten. Die oft richtigen Maßnahmen, die man (meist erst als Reaktion auf Geschehenes) getroffen hat, wurden nicht ordentlich umgesetzt. Die Kirche muss also zu ihrer Verantwortung stehen – gegenüber den Opfern, vielleicht gegenüber den Gläubigen, und der Gesellschaft gegenüber.“

Zum Nachhören: Vorstellung des Berichts zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche in Frankreich

Finanzielle Entschädigungen, keine Pauschalzahlung

Sauvé forderte außerdem im Namen der Kommission Anstrengungen zur Entschädigung der Opfer und zur Wiedergutmachung durch eine von der Kirche unabhängige Einrichtung. Die Opfer dürften nicht mit einer Pauschalzahlung abgefunden werden, sie hätten Anspruch auf eine Würdigung ihres Falls und auf entsprechende finanzielle Leistungen.

Der frühere Richter stellte auch die Empfehlungen der Kommission vor, was sich ändern sollte in der Kirche – in Frankreich, aber auch darüber hinaus.

Sauvé bei der Vorstellung des Berichts
Sauvé bei der Vorstellung des Berichts

Ruf nach Änderung des Kirchenrechts

„Als erstes muss das Kirchenrecht reformiert werden. Es hat nicht so, wie es sollte, zum richtigen Umgang mit Missbrauchsfällen beigetragen. Die Reform des Kirchenrechts, die bald in Kraft tritt und bei der sexuelle Aggressionen nicht länger als Verstoß gegen das Keuschheitsgebot behandelt werden, sondern als Angriff auf das Leben und die Würde der Person, ist ein erster Schritt. Doch gibt es im Kirchenrecht eine zu große Häufung von Funktionen und Rollen, die etwa ein Bischof ausübt; das kann zu Interessenkonflikten führen.“

Außerdem dürften kanonische Prozesse gegen Täter nicht unter völligem Ausschluss der Opfer über die Bühne gehen. „Die Opfer sind die großen Abwesenden bei diesen Prozessen. Es kann doch nicht sein, dass Opfer durch ihre Anzeige einen kanonischen Prozess auslösen, aber erst Jahre später erfahren, dass der Prozess vorüber ist und dass der Täter – auch das hat es gegeben – nur zu einer Wallfahrt verurteilt worden ist.“

Heikel: Wird das Beichtgeheimnis aufgeweicht?

Auch mit dem Beichtgeheimnis hat sich die Kommission nach Sauvés Angaben beschäftigt und lange darüber diskutiert. Ergebnis: Das Beichtgeheimnis dürfe kein Hindernis dafür sein, dass schwere sexuelle Handlungen gegenüber Minderjährigen oder verletzlichen Personen zur Anzeige gebracht werden. „Uns ist klar, dass das ein sehr sensibler Punkt ist. Aber aus Verantwortung trifft die Kommission diese Empfehlung, und auch ich persönlich stehe dahinter.“

Ausdrücklich fordert die Kommission ein neues Miteinander in der Kirche, oder wie Sauvé formulierte, „ein neues Gleichgewicht zwischen dem hierarchischen Prinzip und der Synodalität“. „Es muss vermieden werden, dass die Gewalt der Sakramentenspendung und die Regierungsmacht in der Kirche exzessiv in denselben Händen liegen. Der Kommission scheint es nötig, dass Laien – Männer und Frauen – Zugang zu den Instanzen haben, in denen Entscheidungen gefällt werden. Außerdem braucht es interne Kontrollmechanismen, wie alle öffentlichen oder privaten Institutionen sie haben.“

Anfragen an kirchliche Morallehre

Sauvé sprach sich außerdem für eine Reform der Aus- und Weiterbildung von Priestern und geistlichen Berufen aus. Und er warnte vor einer Überhöhung des Priesteramts: „Die Identifizierung des Priesters mit Christus in allen Aspekten seines Lebens, sogar außerhalb der sakramentalen Feier, ist ein Problem.“ Ähnlich skeptisch sieht die Kommission das in vielen Bereichen der Kirche herrschende Gehorsamsprinzip.

„Was die Morallehre der Kirche betrifft, ist die Kommission zur Überzeugung gelangt, dass eine übermäßige Tabuisierung von Sexualität zu blinden Flecken beitragen kann, so dass sehr schwerwiegende Handlungen nicht bemerkt werden… Der Aspekt der physischen und psychischen Verletzung der Integrität einer menschlichen Person kommt in der kirchlichen Morallehre kaum vor; das ist nicht akzeptabel. Schließlich ist sexueller Missbrauch ein Handeln des Todes und ein klarer Verstoß gegen das fünfte Gebot, Du sollst nicht töten!“

„Meine Herren, Sie sind eine Schande für die Menschheit“

Das katholische Fernsehen kto übertrug live, wie der Leiter der Untersuchungskommission seinen Bericht an die Vorsitzenden der Bischofskonferenz und der Ordensoberenkonferenz überreichte. Auch der päpstliche Nuntius in Paris, Erzbischof Celestino Migliore, war gekommen. „Meine Herren, Sie sind eine Schande für die Menschheit“, sagte ein Vertreter von Missbrauchsopfern in einer kurzen Stellungnahme, an die anwesenden Kirchenleute gewandt.

De Moulins-Beaufort
De Moulins-Beaufort

Erzbischof Éric De Moulins-Beaufort reagierte mit einer Vergebungsbitte. „Allen Opfern solcher Handlungen durch Kirchenleute gegenüber drücke ich meine Scham aus, meinen Schrecken und auch meine Entschlossenheit, mit ihnen zusammenzuarbeiten… Ich möchte Sie heute – jeden einzelnen – um Vergebung bitten. Ich weiß dabei, dass außer Ihnen noch tausende andere Personen betroffen sind, von denen viele sich heute nicht mehr äußern können.“

„Die Zeit der Naivität und der Zweideutigkeiten ist vorbei“

Die französischen Bischöfe haben bei einer Vollversammlung im März einen Maßnahmenkatalog für die Aufklärung von Missbrauchsskandalen und die Prävention künftiger Verbrechen beschlossen. Dieses Engagement müsse jetzt weitergehen, versprach der Erzbischof.

„Die Zeit der Naivität und der Zweideutigkeiten ist vorbei. Zusammen mit den Katholiken Frankreichs und allen Franzosen entdecken wir heute Morgen ein erschreckendes Bild. Das Eindringen eines Erwachsenen in die affektive und sexuelle Reifung eines Kindes oder eines Heranwachsenden ist immer eine Gewalt, die zu einem Trauma führt. Dieses Trauma ist noch um vieles größer, wenn der Täter ein Priester oder ein Ordensmensch ist.“

Bischofskonferenz und Ordensobere werden sich im November auf Vollversammlungen mit dem Missbrauchs-Bericht beschäftigen. Ab 2022 sollen Entschädigungen an Opfer fließen.

(vatican news)
 

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05. Oktober 2021, 12:11