Erzbischof Gugerotti Erzbischof Gugerotti 

„Kaum Aussichten auf Dialog in Ukraine-Krieg“

Er war bis vor drei Jahren Nuntius in der Ukraine – und sieht derzeit kaum Aussichten für eine Lösung des Kriegs. Unser Interview mit Kurien-Erzbischof Claudio Gugerotti.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

Spricht man den Präfekten des Vatikan-Dikasteriums für die Ostkirchen auf den ersten Jahrestag des Kriegsausbruchs an, dann feixt er: „Die Zeit, die ich in der Ukraine verbrachte, war bereits eine Zeit des Krieges.“ Er habe öfters „Gegenden mit bombardierten Städten“ bereist, so der italienische Vatikan-Diplomat. Nur sei international einfach nicht darüber gesprochen worden.

„Wenn eine Ausgangssperre herrschte, kamen die Leute in die Kirche und blieben dort bis zum Morgen, weil sie nicht rausgehen durften, auch nicht in der Weihnachtsnacht. Die Osternacht wurde um vier Uhr nachmittags gefeiert, damit die Leute vor der Ausgangssperre wieder zuhause waren.“

Krieg hat nicht erst letztes Jahr angefangen

Schon lange vor dem jetzigen Waffengang habe der Papst 16 Millionen Euro für die Flüchtlinge im Donbass bereitgestellt, berichtet Gugerotti. „Der Heilige Stuhl hat also lange vor dem Einmarsch der Russen gehandelt, um zu verhindern, dass die ohnehin schon äußerst angespannte Situation noch weiter eskaliert. Leider hat das nicht gereicht, denn die Initiative der Minsker Vereinbarungen kam nicht zum Tragen, man konnte oder wollte sie nicht umsetzen.“

Mariupol im April 2022
Mariupol im April 2022

Sehnsucht nach Minsk

Es ist kein Geheimnis, dass der Heilige Stuhl dem prekären Frieden von Minsk nachtrauert, den Deutschland und Frankreich 2015 zwischen Russland und der Ukraine verhandelt haben; Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin gab kurz nach der russischen Invasion vor einem Jahr zu erkennen, dass er auf ein neues Minsk hofft. Doch viele im Westen glauben rückblickend, dass Putin sich in Minsk einfach Zeit erkauft hat, um seinen Überfall aufs Nachbarland vorzubereiten.

„Sehr schwierig, in der gegenwärtigen Situation Perspektiven zu sehen“

„Nun ist es sehr schwierig, in der gegenwärtigen Situation Perspektiven zu sehen. Vor allem, weil der gute Wille nicht in erster Linie von den Ukrainern abhängt. Die Ukrainer haben in der Art und Weise, wie sie leben und ihre Heimat verteidigen, absolut extremen Mut bewiesen, aber es gibt eine Verflechtung von internationalen Interessen, so dass dieser Krieg mit Dritten auf ukrainischem Gebiet geführt wird.“

Vatikanverantwortlicher Gugerotti - früherer Nuntius in Kiew - im Radio-Vatikan-Interview zum Krieg in der Ukraine

Das ist eine bemerkenswerte Äußerung – sie schließt an die Bemerkung von Papst Franziskus in einem Interview an, dass zur Vorgeschichte des jetzigen Waffengangs auch „das Bellen der Nato“ vor den Toren Russlands gehöre. „Dann gibt es noch die konkreten Probleme des schwierigen Zusammenlebens Russlands mit der Ukraine, aber das ist ein anderes Thema.“

„Das sind lokale Kriege, in denen sich die Großmächte über Länder hinweg gegenseitig bekämpfen“

Erzbischof Gugerotti vertieft diesen Punkt nicht; er weist nur noch darauf hin, dass für Berg-Karabach eigentlich dasselbe gelte. „Das sind lokale Kriege, in denen sich die Großmächte über Länder hinweg gegenseitig bekämpfen.“ Buchstabiert man das zu Ende, dann könnte es so aussehen, als sähe der Vatikan gewissermaßen den Westen – oder: die Nato – im Ukrainekonflikt als Kriegspartei an. 

Vor einem Jahr, in der Nähe von Cherson
Vor einem Jahr, in der Nähe von Cherson

„Ich war gerade in Georgien, als die russische Invasion dort startete. Bei dieser Invasion war klar, dass sie sich nicht in erster Linie gegen Georgien richtete, sondern dass das ein Kampf zwischen Mächten anderer Art war, zwischen Ost und West, um es einfach zu sagen.“

Die blockierte UNO

Der frühere Nuntius in Kiew beklagt die Blockade der UNO angesichts des Ukraine-Kriegs. Zwar hat die UNO-Generalversammlung am Freitag, dem Jahrestag der Invasion, eine Resolution verabschiedet, die den Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine fordert, doch ist der Entscheid nicht bindend. Der eigentlich zuständige UNO-Sicherheitsrat hingegen ist in dieser Angelegenheit beschlussunfähig, weil Russland als sein ständiges Mitglied Vetorecht hat.

„Wenn wir eine wirklich funktionierende Organisation der Vereinten Nationen hätten und einige anachronistische Strukturen beseitigt würden, bei denen man alles blockieren kann, wenn es den eigenen Interessen nicht entspricht, dann gäbe es einen Kontext, in dem man in irgendeiner Weise reagieren könnte. Die Abstimmung hat wieder gezeigt, dass die Vereinten Nationen nicht einstimmig für bestimmte Werte einstehen: Einige Länder haben für die gestimmt, die wir als Hauptverantwortliche für diese Situation ansehen. Da spielen Erpressung und Ängste eine Rolle; es gibt also keinen weltweiten Chor, der in eine bestimmte Richtung geht.“

„Für einen Dialog fehlt derzeit der politische Wille“

Damit sei die UNO „so gut wie handlungsunfähig“ – auch wenn sie vor Ort in humanitärer Hinsicht viel leiste. Für einen Dialog, nach dem der Papst so hartnäckig ruft (womit er sich nicht nur Freunde macht), sieht Erzbischof Gugerotti derzeit „keine Möglichkeit“: Es fehle im Moment einfach der „politische Wille“ dazu. „Was für ein Dialog wäre es denn, wenn es sich da um eine elitäre Politik handeln würde, die von Einzelpersonen oder Gruppen betrieben wird, aber die Bevölkerungen nicht einbezieht?“

Butscha, am 5. April letzten Jahres nach seiner Befreiung von russischer Besatzung
Butscha, am 5. April letzten Jahres nach seiner Befreiung von russischer Besatzung

Rüpelhafte Politik

Das ist eine etwas sybillinische Bemerkung. Der Kurienerzbischof deutet an, ein Dialog müsse „ehrlich“ verlaufen, „die wirklich verantwortlichen Parteien zusammenbringen“ und an die wirklichen Interessen rühren, auch an die „der Märkte“; viel expliziter wird er nicht. Man müsse auch „die Mächte, die ein Interesse daran haben, dass dieser Krieg weitergeht“, in eine Friedensinitiative mit einbinden, sonst schleppe sich der Krieg einfach weiter - so wie in Syrien. Offenbar schwebt ihm eine Art Wiener Kongress vor, der sich beherzt an einer Neuordnung der Sicherheitsarchitektur in Europa versucht. Die Aussichten für eine solche Lösung scheinen ihm derzeit düster: „Die Qualität der Politik ist so rüpelhaft geworden, dass sie die Stimmung im Volk anheizt, aber keine Probleme löst.“

„Ohne Dialog wird dieser Krieg noch lange dauern“

Doch ohne Dialogbemühungen wird das Schlachten nach Gugerottis Analyse endlos so weitergehen. „Ich bin davon überzeugt, dass dieser Krieg, wenn er von den Kriegsanstrengungen abhinge, noch lange andauern würde. Wenn der Heilige Vater beharrlich zum Dialog aufruft, dann nicht nur deswegen, weil der Dialog für uns Christen ein unverzichtbares Instrument ist. Sondern auch deswegen, weil es ohne einen Dialog keinen Ausweg geben wird.“

Der Präfekt des Dikasteriums für die Ostkirchen kommentiert in unserem Interview auch andeutungsweise die problematische Rolle des russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. in diesem Krieg. „Die Orthodoxie erlebt heute einen dramatischen Moment wie vielleicht nie zuvor in ihrer Geschichte: Trennungen, Spaltungen und sogar tiefe Ressentiments.“ Er rät den orthodoxen Verantwortlichen (der Name Kyrill fällt nicht), „sich mehr auf das Evangelium und weniger auf die Politik zu verlassen“.

Patriarch Kyrill von Moskau
Patriarch Kyrill von Moskau

Orthodoxe sollten sich weniger auf die Politik stützen

„Das ist allerdings ein sehr schwieriger Weg, denn im Osten hat sich – wie das früher auch im Westen war – eine starke Vermischung zwischen dem Nationalen und dem religiösen Aspekt entwickelt. Das betrifft nicht nur das Christentum, sondern auch den Islam und teilweise auch Israel: Die ethnische Identität wird zu einer (nicht-praktizierenden) religiösen Identität.“ Politik, Nation, Religion werden in eins gesetzt – ein fataler Mix.

„Was ist denn die Stärke unseres Papstes? Dass er einfach das Evangelium zitiert. Und da kritisiert man ihn und sagt: Du forderst Unmögliches…“

„Manche arbeiten noch für das alte Jerusalem...“

Gugerotti macht klar, dass er damit Franziskus‘ Aufrufe zum Frieden meint. „Es war sehr, sehr schwierig für die Ukraine, bestimmte Aufrufe des Papstes richtig zu verstehen, die, wenn man sie falsch verstand, als eine Art Irenismus interpretiert werden konnten. Während sie einfach ein Hinweis auf die Radikalität Jesu Christi waren, des Gottessohns, der Mensch wurde, um der Welt das Leben zu geben und das neue Jerusalem zu schaffen. Wenn wir weiter für das alte Jerusalem arbeiten, dann wird das neue Jerusalem, eschatologisch gesprochen, apokalyptisch aussehen!“

(vatican news – mit material von antonella palermo)
 

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25. Februar 2023, 10:23