Unser Sonntag: Kein Stein wird auf dem anderen bleiben

In diesem Kommentar zum Evangelium von Pater Sebastian Ortner geht es um die kleinen und großen Apokalypsen und warum es manchmal gut ist, wenn die Dinge offenbar werden. Wichtig aber ist besonders, warum wir standhaft bleiben sollten.

Pater Sebastian Ortner SJ

Lk 21, 5-19

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine mehren sich die Bilder von zerbombten Wohnhäusern, Gebäuden, ausgebrannten Fahrzeugen, ja, Bilder von Massengräbern.

Hier die Betrachtung von P. Sebastian Ortner zum Nachhören

Bilder des Krieges sind uns leider nicht neu. Denken wir nur an die Kriege in Syrien, im Irak, in Äthiopien, in Myanmar und vielen anderen Ländern.

Vielleicht kennen Sie persönlich Menschen, die auf der Flucht sind, die aus ihrer Heimat fliehen mussten.
Ich denke an einen jungen Familienvater aus Syrien, der mit seinem Sohn zu uns nach Wien kam, in der Jesuitenkommunität Zuflucht gefunden hat; der lange warten musste, bis seine Frau und seine anderen Kinder nachkommen konnten. Oder an die müden und bleichen Gesichter von Männern, Frauen und Kindern aus der Ukraine, die im Jesuitenkolleg in Innsbruck Zuflucht gefunden haben, die wir um Mitternacht vom Bahnhof abgeholt haben.

„Ich denke, dass erst in den Gesichtern von Menschen deutlicher wird, was solche Worte wie Krieg und Vertreibung eigentlich bedeuten.“

Ich denke, dass erst in den Gesichtern von Menschen deutlicher wird, was solche Worte wie Krieg und Vertreibung eigentlich bedeuten.
Was es bedeutet, aufgrund seiner Religion verfolgt zu werden.
Was es bedeutet, durch zunehmende Umweltkatastrophen die Heimat zu verlieren.
Was es bedeutet, als Opfer moderner Sklaverei ausgebeutet zu werden.

Liebe Schwestern und Brüder,
das alles ist Realität – insofern sind wir gewissermaßen schon mittendrin – mitten in so etwas wie einer Apokalypse!
Und es ist beunruhigend, nicht nur für uns als Gesellschaft, sondern auch für uns als einzelne.

Apokalypsen im Kleinen

Auch im persönlichen Leben gibt es so etwas wie Apokalypsen im Kleinen. Es ist, als würde uns der Boden unter den Füßen weggezogen, wenn ich meinen Job verliere oder eine wichtige Beziehung in Brüche geht. Dann denke ich mir: Es ist vorbei, ausgespielt. Ja, vielleicht sogar: Ich bin so gut wie tot. Oder: Es wäre mir lieber, es würde mich gar nicht geben.
Das ist Apokalypse als worst case.

Aber Apokalypse ist mehr als individueller oder kollektiver Untergang.

Apokalypse benennt ein Offenbarwerden

Apokalypse benennt auch ein Offenbarwerden. Apo-kalyptein heißt offenlegen, ent-bergen, ent-hüllen, in Erscheinung treten, sichtbar werden.
Etwas, das bisher verborgen war, wird nun sichtbar.
Menschliche Abgründe tun sich auf.
Blinde Wut, übermächtige Angst oder blanker Hass treten zutage.
Vielleicht schäme ich mich dafür.
Das, was ich ungern sage, lieber verschweige, das möchte auch gerne verborgen bleiben.
Erinnern Sie sich an das Märchen vom Rumpelstilzchen?
Das Rumpelstilzchen möchte um jeden Preis verhindern, dass irgendjemand seinen Namen erfährt.
Genauso möchten sich destruktive Kräfte in mir und anderen partout nicht beim Namen nennen lassen.
Die Apokalypse hingegen macht die Wahrheit radikal offenbar:
So ist es, und nicht anders.
Ja, es kann zu Kriegen kommen.
Ja, ich kann in eine Situation kommen, wo ich mich verteidigen muss.
Ja, mein Leben ist fragil und vergänglich.
Apokalypse beinhaltet so etwas wie einen reality-check.
Wo ich die Realität wahrnehme, da hört die Illusion auf, wird durchbrochen.

„Ein Offenbarwerden von Dingen, die schon lange schiefliefen, tut gut.“

Die Fassade, die das desolate Gebäude kaschiert, bröckelt und bricht zusammen.
So wird sichtbar, was Sache ist, wo die eigentlichen Schäden liegen.
So kann abgetragen werden, was nicht mehr trägt, und ein neues Fundament gebaut werden.
Ein Offenbarwerden von Dingen, die schon lange schiefliefen, tut gut.
So, wie im Evangelium offenbar wird, wo Jesus steht, wo seine Gegner stehen, wird offenbar, wer auf Gott vertraut und wer letztlich aus der Angst um sich selbst handelt, wer sein Haus auf Sand gebaut hat.

Standhaft leben

„Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen“, sagt Jesus im heutigen Evangelium.
In der Apokalypse wird klar, zu wem ich wirklich stehe und wer zu mir steht.
Ist mir Jesus Christus so wichtig, dass ich zu ihm stehe, auch wenn ich andere deshalb verliere, wenn ich bei anderen unten durch bin?
Bin ich bereit, Abstand von einem Menschen zu nehmen, wenn ich sehe, dass mich diese Beziehung schwächt?
Halte ich es aus, gegen den Strom zu schwimmen, wenn mir alle sagen, dass ich falsch liege?

Der selige Franz Jägerstätter, ein österreichischer Landwirt, wurde als Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt und hingerichtet. Er ist für mich als Beispiel für Standhaftigkeit wichtig geworden.
Die Entscheidung, den Dienst für ein todbringendes Regime zu verweigern, reifte in ihm durch eine lange, persönliche Auseinandersetzung.
Er war sich dessen bewusst, was seine Entscheidung für sich und für seine Familie bedeuten würde.
Das Vertrauen auf Jesus ließ ihn standhaft bleiben, bis hin zum Scharfrichter.

In all dem auf Jesus vertrauen

Und doch, so sagt es Jesus, wird euch kein Haar gekrümmt werden.
Wer auf Jesus vertraut, bleibt unversehrt, was auch geschehen mag.
Jesus lädt mich ein, nicht schon im Voraus für mich zu sorgen, alles in der Hand haben, alles unter Kontrolle haben zu wollen:
„Nehmt euch also zu Herzen, nicht schon im Voraus für eure Verteidigung zu sorgen; denn ich werde euch die Worte und die Weisheit eingeben!“.
Jesus ermuntert mich, mir keine unnötigen Sorgen zu machen.
Das ist es wohl, was der hl. Franz von Sales meint, wenn er sagt:
„Begegne dem, was auf Dich zukommt, nicht mit Sorge, sondern mit Zuversicht“.

Sich von der Kraft Jesu Christi erfüllen lassen

Liebe Schwestern und Brüder!
Das heutige Evangelium lädt uns ein, uns von der Kraft Jesu Christi erfüllen zu lassen.
Es fordert uns heraus, uns einzulassen auf das, was Er uns im Gebet sagen will.
So gewinnen wir an Klarheit, an innerer Ruhe und an Lebensfülle.

„Man muss seine Segel in den unendlichen Wind stellen – erst dann werden wir spüren, welcher Fahrt wir fähig sind.“ Der Jesuit Alfred Delp, aus dessen Feder dieses Zitat stammt, wurde 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Indem er sein Leben in den unendlichen Wind Gottes stellte, indem er seiner Berufung treu blieb, konnte er dem Gegenwind seiner Zeit widerstehen.
In seinem Abschiedsbrief schreibt er:
„Nicht traurig sein.
Gott hilft mir so wunderbar und spürbar bis jetzt.
Ich bin noch gar nicht erschrocken.
Das kommt wohl noch.
Vielleicht will Gott diesen Wartestand als äußerste Erprobung des Vertrauens.“

„In Situationen, in denen es eng wird, in denen es wirklich eng wird, brauchen sich Gläubige aller Zeiten keine Sorgen zu machen, weil Christus selbst ihnen beisteht.“

Aber was heißt das für uns?
In Situationen, in denen es eng wird, in denen es wirklich eng wird, brauchen sich Gläubige aller Zeiten keine Sorgen zu machen, weil Christus selbst ihnen beisteht. All ihre Gegner werden letztlich nicht gegen ihr Zeugnis ankommen.

Liebe Schwestern und Brüder!
Kein Stein wird auf dem andern bleiben.
Manchmal ist es, als würde alles einstürzen:
Konflikte wachsen uns über den Kopf und werden zu Kriegen.
Ich fühle mich überfordert und möchte resignieren.
Apokalyptisch anmutende Erfahrungen offenbaren die Abgründe unserer Lebensrealität.
Doch gerade durch dieses Sichtbarwerden von Desolatem können wir benennen, was schiefläuft.
Jesus schenkt uns die Klarheit und den Mut zum Handeln, inmitten von Chaos und Überforderung.
So können wir Zeugnis ablegen, im Vertrauen auf Jesus!

Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen!
Amen.

(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)

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12. November 2022, 11:00