Ist schon wieder Geschichte: Ein menschenleeres Wien am 15. März Ist schon wieder Geschichte: Ein menschenleeres Wien am 15. März 

Österreich: „Vorherrschend war Eindruck des Bravseins“

War das kirchliche Agieren seit Ausbruch der Corona-Pandemie allzu „brav“?

Der Leiter der Wiener Theologischen Kurse, Erhard Lesacher, hat zu dieser Frage auf den Eindruck vieler Gläubiger verwiesen, „dass hier relativ schmerzfrei Wesentliches wie z. B. der Gemeindebezug des Gottesdienstes aufgegeben wurde, dass staatliche Vorgaben vorauseilend übererfüllt wurden, dass sich die Kirche hinter ihre sicheren Mauern zurückgezogen habe“.

Kirche sei plötzlich zur „Kleruskirche“ geworden. Dass es in der Kirchenleitung ein Ringen um diese theologisch problematischen Entscheidungen gab, sei anzunehmen, aber nach außen nicht wirklich deutlich geworden, so Lesacher in einem Beitrag für „theocare.network“, den Corona-Blog der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät. „Vorherrschend war der Eindruck der Schmerzfreiheit und des Bravseins. Für letzteres wurde die Kirche von der Regierung ja auch ausdrücklich gelobt.“

Entscheidungen mit „teilweise eminenten theologischen Implikationen“

Der Theologe, der in der Erzdiözese Wien seit fast 30 Jahren für theologische Erwachsenenbildung verantwortlich ist, bezeichnete es als „zweifellos absolut zu begrüßen“, dass die Kirche Richtlinien auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse beschließt. Da Virologen, Juristen usw. in ihrer Beratung tendenziell auf „Nummer sicher“ setzen, seien manche Entscheidungen eher vorsichtig ausgefallen.

Auch die Kirche habe unter Zeitdruck rasch Maßnahmen treffen müssen, anerkannte Lesacher. Er teile die Ansicht Kardinal Christoph Schönborns, der gegenüber „Strafe-Gottes-Theorien“ festhielt, dass Seuchen einen natürlichen Ursprung haben und mit medizinischem Sachverstand bekämpft werden müssen. Der Fortsetzung des Erzbischofs: „Da kann die Theologie nicht mitreden ...“ könne er aber nicht zustimmen, so Lesacher. Auf der Basis von z. B. virologischen Erkenntnissen treffe die Kirchenleitung notwendige Entscheidungen, die „teilweise eminente theologische Implikationen“ hätten. Virologen könnten im Kontext der Kirche somit keine exklusive Deutungshoheit haben, merkte der Wiener Theologe an.

„Leibloser Glaube“ ist unchristlich

Lesacher hielt fest: „Social distancing steht diametral gegen die christliche Grundüberzeugung, dass Gott Communio (Gemeinschaft, Anm.) ist.“ Ein „leibloser Glaube“ sei fragwürdig, die Kirche - auch „Leib Christi“ genannt - als ganze sowie all ihre Sakramente hätten eine physische, leiblich erfahrbare Komponente. Es sei somit ein erhebliches Problem für eine Glaubensgemeinschaft, wenn auf längere Zeit gerade diese physische Komponente nicht gelebt werden kann. Lesacher berief sich auf Papst Franziskus, demzufolge eine Gottesbeziehung ohne Kirche, ohne Gemeinschaft der Gläubigen und ohne Sakramente „gefährlich“ sei.

Skeptische Frage des Theologen: "Werden die Gläubigen wieder in die Kirche strömen, oder werden sie das eingeübte Social distancing gegenüber der Kirche aufrechterhalten?" Wenn die gegenwärtige Neuausrichtung der Kultur als irreversibler Schritt hin zur künftigen "Digital-Tele-Ferngesellschaft" gedeutet wird, könne das für die Kirche "sicher kein Zukunftsmodell" sein. Jenen, die sich zuletzt von gestreamten Gottesdiensten begeistern ließen, stehen laut Lesacher jene gegenüber, die auf Hauskirche setzen "und sich nicht digital abspeisen lassen wollen". Nachbemerkung: "Allerdings setzt Hauskirche ein gewisses Maß an Kenntnis von (biblischen) Texten und liturgischen Abläufen voraus, das aber nicht allgemein verbreitet ist."

Krise verschärft Ungleichheit

Für den Leiter der Theologischen Kurse stellen sich im Zusammenhang mit der Corona-Krise auch Fragen jenseits gelebter Religiosität, die theologische Reflexion erforderten. So die Tatsache, dass die Pandemie Ärmere härter treffe als Reiche: Arbeitslos etwa würden weniger jene, die ins Home-Office ausweichen können, sondern überwiegend weniger Qualifizierte. Anfängliche Rufe nach Grundeinkommen, Schuldenerlass und weltweites Ende aller Kriege seien rasch verhallt. „Werden die Heldinnen und Helden des Corona-Alltags wirklich nachhaltige, auch finanzielle Anerkennung erhalten, wie zuletzt von Bundeskanzler Kurz angedeutet?“, fragte Lesacher.

Das Ende der Globalisierung?

Manche sähen mit der Corona-Krise das Ende der Globalisierung, der Massenmobilität und des „Mythos (Wirtschafts-)Wachstum“ gekommen, demgegenüber Hoffnung im Kampf gegen den Klimawandel und neue Chancen für den vom Neoliberalismus zerrütteten Sozialstaat. Lesacher bleibt demgegenüber skeptisch: Vielleicht werde ja der Finanzmarkt als erster gerettet, und vielleicht setze der Staat mehr auf digitale Kontrolle als auf Stärkung von Eigenverantwortung und Zivilgesellschaft? Der Theologe sieht durchaus die Gefahr, „dass das Klima und die globale Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben“.

Der bald 80-jährige Kursbetrieb der Theologischen Kurse war nur in den letzten Kriegstagen 1945 für ein paar Wochen unterbrochen, erinnerte deren Leiter. Die jetzige Pause werde vermutlich länger dauern als die damalige. Auch wenn die Anfang Oktober geplante 80-Jahr-Feier coronabedingt beeinträchtigt sein sollte, werden die Theologischen Kurse unbeirrt zur Reflexion über die großen Fragen des Lebens und des Glaubens einladen, kündigte Lesacher an: „Ich bin davon überzeugt, dass Bildung, Nachfragen, Infragestellen und Lernen auch nach Corona stark gefragt sein wird.“

(kap – sk)
 

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09. Mai 2020, 13:14