Papst trifft Missbrauchsopfer: Kirchenrechtlerin glaubt an neue Entwicklungen
Gudrun Sailer – Vatikanstadt
Im Interview mit Vatican News spricht die Professorin auch über die erste Zusammenkunft der neu besetzten Kinderschutzkommission, die vergangene Woche in Rom tagte. Das Klima in der Gruppe sei sehr konstruktiv, begonnen habe die Sitzung mit der Anhörung einer Gruppe von Opfern aus England und Wales. In einer Privataudienz habe Papst Franziskus gesagt, die Kommission sei ihm sehr wichtig: „Wir brauchen sie für die Opfer“.
Bei seiner Reise in Chile im Januar hatte der Papst den chilenischen Bischof Juan Barros verteidigt. Dieser steht im Verdacht, Missbrauch an Jungen durch den prominenten Priester Fernando Karadima gedeckt zu haben. Als die Empörung immer weiter wuchs, schickte Franziskus Erzbischof Charles Scicluna, einen erfahrenen Ermittler in Missbrauchsfällen, nach Chile. Danach räumte er in einem Brief an die Bischöfe des Landes „schwerwiegende Fehler bei der Bewertung und Wahrnehmung der Situation“ in Chile ein und lud sie zu Beratungen in den Vatikan. Zunächst aber empfängt er drei chilenische Opfer.
Vatican News: Papst Franziskus will jedem der drei Männer einzeln so lange zuhören, wie sie sprechen wollen, Juan Carlos Cruz, einer der Betroffenen, sagte in einem Interview, für ihn sei der ganze Sonntag reserviert. Wie schätzen Sie die Wirkung dieser Initiative ein?
Myriam Wijlens: „Ich glaube, wir können gespannt sein auf das, was auf beiden Seiten geschehen wird. Ich denke, so wie den Papst in der vergangen Woche erlebt habe, wird er aufrichtig zuhören, und dann wird man sehen müssen, was das mit ihm macht. Ich hoffe aber auch für die Opfer, dass dieses Treffen für sie eine kleine Heilung sein kann, dadurch, dass sie das Gefühl haben, dass der Papst einen Weg sucht, wie es weitergehen kann. Hoffentlich hat der Heilungsprozess für die Opfer schon begonnen, indem sie die Einladung angenommen und sich auf den Weg nach Rom gemacht haben. Ich hoffe aber auch, dass es langfristig zu solchen Missbrauchsvorwürfen und –verfahren nicht mehr kommen wird.“
Vatican News: Sie haben dieser Tage an der ersten Sitzung der personell teils umbesetzten Kinderschutzkommission teilgenommen, Sie selbst sind eine der neue ernannten Angehörigen des Gremiums. Ihre Eindrücke?
Myriam Wijlens: „Ich bin sehr beeindruckt darüber, dass die Kommission ihre Sitzung damit begann, Opfern zuzuhören. Wir haben also angefangen mit der Frage: Was ist sexueller Missbrauch, was hat er mit Menschen gemacht, die jetzt im Erwachsenenalter sind, die aber vielleicht vor vielen Jahren sexuell missbraucht wurden von Priestern in der katholischen Kirche. Dass wir zuhören wollten und zugehört haben, dass wir versucht haben, diese Erfahrungen auch in den Tagen danach Wert zu schätzen, indem wir versuchen, herauszufinden, was unsere Aufgabe jetzt ist und wie wir dieser Situation jetzt am besten begegnen können: Ich glaube, das ist die Erfahrung, der Austausch mit den Opfern, die als prägende Erfahrung noch lange dabei bleibt.“
Vatican News: Sie haben als Gruppe auch eine Audienz bei Papst Franziskus gehabt, was wurde dabei deutlich?
Myriam Wijlens: „In dem Gespräch hat der Papst stark zu erkennen gegeben, wie wichtig ihm diese Kommission ist. Er sagte: „Wir brauchen diese Kommission, wir brauchen sie für die Opfer.“ Wenig später bestätigte er die Statuten, die er vor drei Jahren „ad experimentum“ gutgeheißen hat, offiziell. Er hat auch gesagt, Priester haben die Aufgabe, Kinder zu Gott zu bringen oder Gott in den Kindern spürbar zu machen und den Glauben spürbar und lebendig zu machen. Es war ihm anzusehen, wie sehr es ihn betroffen macht, dass einige Priester diese Aufgabe missbrauchen.“
Vatican News: Sie beschäftigen sich schon seit langer Zeit mit Missbrauch in der katholischen Kirche. Was können Sie als Kirchenrechtlerin in die Arbeit der Kinderschutzkommission einbringen?
Myriam Wijlens: „Ich glaube, ich bin tatsächlich die einzige Kirchenrechtlerin in der Kommission, mit Ausnahme des Sekretärs. Das ist schon ein wichtiger Punkt, allen in der Kommission etwa erklären zu können, wie die Beziehung zwischen einem Ordensoberen und einem Bischof ist, wenn es einen Ordensmann betrifft, der in einer Pfarrei gearbeitet hat, aber nicht mehr arbeitet, wenn der Missbrauch in der Pfarrei stattgefunden hat. Also wie die Zuständigkeiten zu klären sind, das sind nicht so einfache Fragen, aber darüber kann man nachdenken und miteinander das Gespräch suchen.“
Vatican News: Sie sagten, Sie haben in der Kommission drei Gruppen gebildet, eine für die Opfer, die zweite für die Aus- und Weiterbildung kirchlicher Mitarbeiter, die dritte beschäftigt sich mit Richtlinien und Normen – also Ihr Bereich.
Myriam Wijlens: „Ja, da werden wir uns Fragen widmen wie: Wie sieht es eigentlich mit Verjährung aus, was bedeutet es, ob man Verjährungsfristen aufhebt oder nicht, wie sieht das für die Opfer aus und wie für die Angeklagten? Welchen Standard von Beweisführung hat man? Wie findet man eine moralische Sicherheit? Welche Autorität misst man den Aussagen von Opfern bei? Wichtig ist auch die Frage nach Vertraulichkeit: Was bedeutet es eigentlich im Verfahren, wenn bestimmte Informationen vertraulich sind? Wer hat ein Recht auf Informationen und wie kann man diese Rechte auch umgehen, sodass eine gewisse Klarheit auch für die Opfer deutlich wird? Die Kommission muss jetzt zunächst bestimmte Fragestellungen angehen und dann zusehen, was eigentlich die Probleme sind und wie man sie weltweit lösen kann.“
Vatican News: Mehrere frühere Angehörige der päpstlichen Kinderschutzkommission haben das Gremium in den vergangenen Jahren im Protest verlassen. Wie nehmen Sie das Klima wahr?
Myriam Wijlens: „Die Gruppe hat ein sehr gutes Klima. Wir haben uns sehr gut verstanden. Ich glaube das Wichtige war, den Erfahrungen der Opfer wirklich gemeinsam zuzuhören. Die Opfer waren eine ganze Gruppe aus England und Wales, die untereinander auch vertraut sind. Wir haben uns auch gefragt: Wie wäre das, wenn wir eine Gruppe aus einer völlig anderen Kultur hätten? Und kann eine andere Kultur auch so sprechen?“
Vatican News: Ist es mittlerweile anerkannter Wissensstand, dass Missbrauchsfälle in allen Ortskirchen vorkommen, oder gibt es Kulturen, in denen das Problem sich nicht stellt? Oder ist es eine Frage der Kommunikation, ob sich jemand damit heraustraut?
Myriam Wijlens: „Wenn man in die Geschichte des Kirchenrechtes geht, stellt man fest, dass es schon sehr früh Gesetze gegeben hat über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen. Es ist also ein Phänomen, das wir – leider – durch unsere Geschichte mittragen. Deswegen gibt es eigentlich keinen Anlass zu glauben, dass es das irgendwo nicht gibt. Darauf würde ich zumindest nicht mehr setzen wollen aufgrund meiner Erfahrungen. Man kann eigentlich nur hoffen, dass wir in der Zukunft eine größere Kultur von Achtsamkeit haben werden.“
(Vatican News – gs)
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