Missbrauch: Kardinal Schönborn spricht mit Ex-Ordensfrau
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
Doris Wagner war als Angehörige der in Österreich ansässigen geistlichen Familie „Das Werk“ Opfer von Vergewaltigung sowie von sexuellen Annäherungsversuchen im Beichtstuhl durch zwei österreichische Patres geworden, wie sie in einem Buch schrieb.
„Mein erster Impuls, als ich vergewaltigt worden bin, mein erster Impuls war: das kann ich niemals irgendjemandem erzählen, weil sonst würden Menschen an der Kirche zweifeln", sagte Wagner in dem Gespräch. „Ich glaube, dass viele Opfer diesen Impuls selber haben, den dann auch Verantwortliche haben, wenn man ihnen davon erzählt: das wichtigste ist, dass der Kirche nichts passiert. Das kommt bei Menschen daher, dass die Kirche ihre Heimat ist, und niemand möchte seine Heimat verlieren.“
Kardinal Schönborn bekannte, das sei ein Zug, der ihn im Gespräch mit Missbrauchsopfern jedes Mal erschüttere: „Die ganze Dynamik des Schweigens, ,wehe denn du redest´.“ Speziell bei Priestern sei dies leider auch religiös besetzt. „Dann wirst du von Gott bestraft. Dann kommst du in die Hölle, wenn du redest - und das, nur um das eigene Verbrechen zu verstecken.“
Das Prinzip, das Missbrauch in der Kirche ermöglicht, sei aus ihrer Sicht ein „Machtungleichgewicht“, betonte Wagner. „Sobald Augenhöhe fehlt in einer Beziehung, wird die Beziehung anfällig dafür, dass es auch Missbrauch gibt, dass der Part, der mehr Macht hat, sich über den anderen hinwegsetzt.“ Schönborn stimmte der Theologin zu und ortete darüber hinaus ein großes Risiko in einer Überhöhung der Figur des Priesters.
„Ja. Dieses Ungleichgewicht ist zweifellos eine der Wurzeln des Missbrauchs. Der Priester ist sakral, er ist unberührbar, der ist der Herr Pfarrer, und wenn dieses Priesterbild vorherrscht, ist natürlich Autoritarismus die ständige Gefahr, der Pfarrer bestimmt alles, es ist die Gefahr, dass der Pfarrer sich mehr leisten darf als die anderen.“
Die Deutsche Doris Wagner war nach dem Abitur in die Ordensgemeinschaft eingetreten. Als sie acht Jahre später das Weite suchte, war sie nach eigenen Angaben seelisch zerstört. Dafür macht sie nicht nur den erlittenen sexuellen und geistlichen Missbrauch verantwortlich, sondern auch eine grundsätzliche, systematische Unterordnung der Ordensschwestern unter die Ordenspriester.
„Ich habe Jahre mit Putzen, Gemüseschälen und Tellerwaschen verbracht. Und das gilt ja für ganz viele Ordensfrauen sowieso. Das Stereotyp oder Rollenmodell für Ordensfrauen ist ja wirklich dieses grenzenlose Verfügbarsein. Und selber nichts sein wollen, sondern sich ganz aufgeben. Auch wenn man leidet: lächeln, nicht darüber sprechen, einfach nur dienen – das ist einfach ein furchtbares Bild.“ Heute frage sie sich: „Warum sollen Frauen in der Kirche nicht auf Augenhöhe sein mit Männern?“
Diese Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in der Kirche, sagte Schönborn, sei „eine Uralt-Sünde in der Kirche: Ja, Schwestern haben zu dienen.“ Er habe oft abwertende Bemerkungen von Geistlichen gegenüber Ordensfrauen gehört, denen einzig die Funktion des Dienens zugestanden wurde. Zwar habe er selber in seinem Bischofshaus drei indische Schwestern, die den Haushalt führen, und das sei „eine sehr gute und herzliche Gemeinschaft, aber ich weiß, das ist nicht das Zukunftsmodell“, sagte Schönborn und fügte hinzu:
„Die Frauenfrage ist eines der großen Zeichen der Zeit. Und davon bin ich überzeugt. Das ganze Thema Missbrauch, was es alles aufrührt und in Bewegung setzt, wird die Frage der Frau in der Kirche in ein neues Licht stellen.“
Doris Wagner hatte sich nach ihrem Austritt über das Phänomen missbrauchter Ordensfrauen informiert und war geschockt über die Zahl und die Art der Fälle sowie über das Schweigen der Kirche.
„Dass es Klöster gibt, wo Bischöfe Schwestern wie Prostituierte behandeln und sich von der Oberin schicken lassen, und Schwestern, die sich mit AIDS anstecken, oder die zu Abtreibungen gezwungen werden; besonders der eine Fall von der Schwester, die bei der Abtreibung gestorben ist, und dass der Täter dann auch noch das Requiem gefeiert hat, das ist so – schlimm. Und doppelt schockiert bin ich nicht nur, weil diese Fälle so schockierend sind. 2013/2014 bin ich auf diese Fälle gestoßen, und 2001 waren die Fälle in der New York Times. Und ich habe mir gedacht: Warum hat das niemanden interessiert?“
Die Voraussetzung dafür, dass sich an diesem Schweigen etwas ändert, sei ein „gemeinsamer Bewusstseinsstand“, antwortete Kardinal Schönborn. „Und dieses Bewusstsein ist nicht da.“ Er habe selbst versucht, in einem südeuropäischen Land im Fall einer missbrauchten Ordensfrau zu intervenieren.
„Ich habe in diesem Land versucht, die Bischöfe aufzurütteln, auch den Kardinal dieses Landes – erfolglos. Die Schwester wurde aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Und der Prälat ist nach wie vor im Amt. Ich habe, nachdem ich bei der Ortskirche nichts erreicht habe, mit einem anderen Bischof zusammen Papst Benedikt über den Fall geschrieben. Der Brief ist zu ihm gekommen offensichtlich, er hat die Anweisung gegeben, dass diese Schwester angehört werden muss, sie ist zwei Stunden lang gehört worden in der [vatikanischen] Religiosenkongregation. Am Schluss bekam ich einen Brief, das Ordinariat von Wien ist schlecht informiert. Ich habe mit einem Kardinal aus einem südlichen Land über diesen Fall gesprochen, und er hat mir gesagt, ,ja ja, ihr da im Norden, inklusive Papst Benedikt, ihr habt da einen anderen Zugang als wir im Süden.´ Ich habe ihn jetzt vor kurzem wieder mit diesem Wort konfrontiert. Er hat es noch immer nicht eingesehen.“
Genau das sei auch das Anliegen von Papst Franziskus mit der bevorstehenden Konferenz über Missbrauch und Kinderschutz im Vatikan: ein gemeinsames Bewusstsein zu schaffen.
„Wie lange müssen denn wir noch warten?“, wandte Wagner ein. „Warum ist für diese Würdenträger, die jahrelang nicht in der Lage sind oder willens, so viel Verständnis da in der Kirche, und für uns Opfer, deren Leben zerstört ist, nicht?“ Sie forderte im Gespräch mit Schönborn mehr Solidarität von Verantwortlichen in der Kirche mit den Opfern ein.
„Was schön wäre, wäre wenn Bischöfe auch zu den Opfern kommen, wenn sie auf deren Märschen mitlaufen, sich mit ihnen verabreden und sich anhören, was sie zu erzählen haben, auch jenseits der Aula im Vatikan, mit den Betroffenen auf die Straße gehen und diese Begegnung zu suchen um die Botschaft hinauszutragen, auch konkret als einzelner Bischof: Ihr bedeutet mir etwas. Ich möchte euch nicht verlieren. Ich möchte, dass es euch gutgeht.“ Er werde das zu dem Treffen in Rom mitnehmen, versprach der Kardinal.
Schönborn: selber einen sexuellen Übergriff erlebt
Schönborn erzählte im Gespräch mit der ehemaligen Ordensfrau zudem, er habe selbst als Jugendlicher in den 50er Jahren einen sexuellen Übergriff erlebt: Ein Priester, den er grundsätzlich sehr schätzte, habe versucht, ihn auf den Mund zu küssen. Auch räumte der Kardinal eigene Fehler beim Umgang mit Missbrauchsfällen ein. Als Weihbischof in Wien habe er in einer ersten Reaktion den damaligen Wiener Erzbischof Hans Hermann Groer verteidigt, als Vorwürfe aufkamen, Groer habe Schüler missbraucht.
„Meine erste Reaktion war, das kann ich nicht glauben. Am selben Abend im Fernsehen wurde ich befragt, und ich habe wirklich gesagt, das ist unfassbar, so ein Vorwurf, das erinnert mich an die Nazizeit, wo man Priester der Homosexualität beschuldigt hat.“ Für diese Äußerung habe er zwei Tage später um Entschuldigung gebeten. Zwar habe er gewusst, dass Groer „einen gerne abgetatschelt“ habe, aber der Vorwurf eines handfesten sexuellen Missbrauchs gegen den Kardinal sei ihm neu gewesen. Überzeugt hätten ihn aber die Zeugen, mit denen er später gesprochen habe.
Doris Wagner schilderte ihrerseits, sie sei in der Kirche mit ihren Erlebnissen lange Zeit auf taube Ohren gestoßen. Besonders schmerzhaft sei es gewesen, so Wagner im Gespräch mit Schönborn, dass ihr so lange niemand glauben wollte.
„Ich möchte aber, weil mir das unendlich viel bedeutet, von Ihnen hören, was ich bis jetzt noch von niemandem in der Kirche in einer Verantwortungsposition gehört habe, dass Sie mir glauben. Ich habe so oft meine Geschichte erzählt mittlerweile, ich habe das in meiner Gemeinschaft von niemandem gehört: wir glauben dir, und das hätte dir nicht passieren dürfen. Könnten Sie mir das sagen?“ „Ich glaube Ihnen das, ja“, sagte Schönborn.
Der Kardinal hatte sich aus eigenem Antrieb mit Doris Wagner in Verbindung gesetzt, als er ihr Buch gelesen hatte, und hörte ihr eine Stunde lang am Telefon zu, erinnert sich die frühere Ordensfrau in der Sendung. Das Buch habe ihm „viel Hoffnung gegeben“, fügte der Kardinal im Gespräch mit der Autorin hinzu, weil es den Missbrauch klar benenne. Was nicht zur Sprache komme, könne nicht wirken.
„Ja, ich habe Hoffnung, weil ich glaube, dass durch alles dieses schreckliche Leiden und das viele Unrecht, das geschehen ist, und durch das viele Unverständnis ein Heilungsprozess geschehen kann, der hoffentlich auch die Kirche wirklich erneuert.“
Doris Wagner, verheiratete Reisinger, verarbeitete nach ihrem Austritt aus der Ordensgemeinschaft ihre Erlebnisse in dem Buch „Nicht mehr Ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“. Vor kurzem ist darüber hinaus ihr Werk „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ erschienen. Der Priester Hermann Geißler, dem sie Belästigung im Beichtstuhl vorwirft, hat inzwischen aufgrund des medialen Drucks seine Stelle als Abteilungsleiter an der vatikanischen Glaubenskongregation geräumt; er betont seine Schuldlosigkeit und behält sich rechtliche Schritte wegen Verleumdung vor.
(vatican news)
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