Ukraine: Flutkatastrophe mitten im Krieg

„Die Lage in Cherson war von Beginn des Krieges an sehr schwierig“, sagt uns der Prior des Basilianerklosters St. Wladimir in Cherson, Ihnatiy Moskalyuk. „Viele Menschen sind weggegangen. Und jetzt - nach dem, was jetzt passiert ist - ist die Lage ausgesprochen kritisch, denn das Wasser ist schrecklich, wir können gar nichts tun. Wir können nur evakuieren, damit es keine Todesopfer gibt.“

Zehntausende von Menschen in kritischer Zone

Aus der Stadt Cherson sind seit Kriegsbeginn etwa 90 Prozent der Bevölkerung geflüchtet oder weggezogen. Doch nach Angaben der ukrainischen Behörden befinden sich 16.000 Menschen in der kritischen Zone auf dem von ukrainischen Truppen kontrollierten Gebiet. Auf russisch besetztem Gebiet sollen es weitere 25.000 Menschen sein.

„Die Behörden tun alles, was in ihrer Macht steht, um Leben zu retten. Und wir Priester bitten Gott, allen Weisheit zu geben, damit wir das überleben können. Einige Teile der Stadt sind bereits überflutet. Cherson liegt auf einem Hügel, aber die linke Seite liegt tiefer und wurde überflutet, weil das Wasser um fünf Meter angestiegen ist.“

Wer war's?

Von Todesopfern ist bisher nichts bekannt – und auch die genauen Gründe für die Explosion des russisch besetzten Kachowka-Staudamms sind noch unklar. Die Ukraine wirft Russland vor, das Desaster herbeigeführt zu haben. Der römisch-katholische Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk beschuldigt Russland einer weiteren „völkermörderischen Aggression“. Noch steigen die Pegel, der Höchststand der Überflutungen soll im Lauf dieses Mittwochs erreicht werden.

„Das Kloster befindet sich an einem sicheren Ort, weil es auf einem Hügel liegt. Einige Menschen kommen zu uns ins Kloster, aber die meisten werden von den Behörden in sichere Gebiete evakuiert. Bald könnte es Probleme mit Strom und Wasser geben – das ist es, was wir befürchten. Aber ich sage: Wir vertrauen nur auf Gott, den Herrn, dass er uns helfen wird… und diejenigen, von denen alles abhängt, werden wissen, was in dieser Situation zu tun ist.“

Die in der Süd-Ukraine tätigen Hilfsorganisationen haben ihren Einsatz für die von den Überflutungen betroffenen Menschen begonnen. Die römisch-katholische „Caritas Spes“ hat noch am Dienstag Hilfsstationen in Mykolajiw und Odessa zur Unterstützung der dorthin Geflohenen eingerichtet und erhebt momentan den Bedarf in der Überschwemmungsregion Cherson. Als Caritas-Hilfszentrum in der Stadt Cherson diente schon bisher die dort befindliche römisch-katholische Pfarrei, doch ist auch dort das aus dem Stausee entwichene Wasser schon bis dicht an die Kirche gelangt.

Unmittelbar nach dem Losbrechen der Wassermassen am Dienstagmorgen hatte die Evakuierung der Menschen unterhalb des zerstörten Wasser-Kraftwerks begonnen. Wer die Region verlässt, tut dies vor allem westwärts, in Richtung Odessa. „Die Vertriebenen kommen am Weg dorthin zunächst nach Mykolajiw, können dort aber nicht bleiben, weil die Stadt weiter unter Beschuss ist“, erklärt Caritas-Spes-Projektleiterin Olena Noha. „Das gilt zwar auch für Odessa, doch ist man dort sicherer.“ Schon jetzt sei absehbar, dass die ohnehin bereits von vielen Binnenvertriebenen bevölkerte Schwarzmeer-Metropole nicht Platz für alle Flüchtlinge aus Cherson haben werde und viele von ihnen deshalb weiterreisen müssten.

Der Krieg macht keine Pause

Einen Überblick über das Ausmaß der Katastrophe gibt es bislang noch nicht. Die überschwemmten Siedlungen sind laut Caritas-Spes großteils von der Strom-, Gas- und Wasserversorgung abgeschnitten. Auch viele russisch besetzte Gebiete seien bedroht, ebenso wie die Halbinsel Krim mit dem Wegfall des Kachowka-Stausees nun plötzlich ohne Süßwasserquelle dazustehen drohe. Probleme mit der Wasserversorgung würden außerdem aus den ukrainisch kontrollierten Regionen nördlich des Sees vermeldet, etwa aus den Städten Krywyj Rih, Marhanets und Nikopol.

Bangen um Saporischschja

Dazu kommt schließlich auch noch die Sorge um weitere, noch nicht absehbare mögliche Folgen der Katastrophe. „Wir hoffen inständig, dass die Situation im russisch besetzten Kernkraftwerk Saporischschja, das am Ufer des Stausees liegt und durch das Wasser gekühlt wird, tatsächlich unter Kontrolle ist und bleibt“, so Noha. „Die Ukraine erlebt immer neue Tragödien - und die Konzentration auf den zerstörten Staudamm auch so schon eine enorme Herausforderung.“

Im zur Region Cherson gehörenden Überschwemmungsgebiet der Anfang der 1950er-Jahre über den Dnipro-Fluss errichteten Staumauer liegen rund 80 Ortschaften. Der von den Russen kontrollierte, durch die Detonationen in Bewegung gesetzte Stausee war mit 230 Kilometer Länge und einer Breite von bis zu 9,4 Kilometer rund viermal so groß wie der Bodensee und fasste 18 Kubikkilometer Wasser.

(vatican news/kap – sk)