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Erzbischof Arjan Dodaj von Tirana-Durrës Erzbischof Arjan Dodaj von Tirana-Durrës 

Albanien: Der Bischof, die Emigration und die Jugend, die bleiben soll

Er flüchtete mit 16 aus dem post-stalinistischen Albanien, kehrte als Priester zurück und wirbt heute als Bischof dafür, dass junge Menschen in Albanien bleiben können, statt auszuwandern: Das ist die Geschichte von Arjan Dodaj, Erzbischof von Tirana-Durrës. Mit dem Hilfswerk Renovabis, das seine diesjährige Pfingstaktion dem Thema Arbeitsmigration widmet, zieht er an einem Strang.

Gudrun Sailer - Tirana

Wir trafen Erzbischof Dodaj in Tirana, wo er uns aus seiner Vergangenheit als Flüchtling erzählte und von seinem Einsatz für die Zukunft Albaniens berichtete. „Wir können nicht die Emigration verhindern“, stellt er gleich zu Beginn klar. „Denn Migration ist ein Phänomen, das zur Geschichte der Menschheit gehört. Abram, geh hinaus… Meine Mission sehe ich darin, die Wahrheit zu erzählen.“

Zehntausende verlassen Albanien pro Jahr

Und diese Wahrheit hat viele Gesichter. 42.000 Menschen sind amtlichen Zahlen zufolge allein 2021 aus Albanien ausgewandert: 42.000 in einem Land mit nicht einmal drei Millionen Einwohnern. Dabei fehlen den meist jungen Menschen, die weggehen, viele von ihnen nach Italien oder Deutschland, grundlegende Informationen darüber, was es eigentlich bedeutet, zu emigrieren – für das persönliche Leben und für die Zukunft des Heimatlandes, sagt der Erzbischof.

„Alle denken ans schnelle Geld“

„Viele Junge gehen weg und sind dann enttäuscht. Als ich 1993 wegging, war es ein ganz anderer Kontext. Die ganze Welt war für uns eine Neuheit, wir waren ja in Albanien wie in einem Bunker eingeschlossen gewesen. Jetzt gibt es alle Möglichkeiten, wegzugehen, aber wenige Informationen über die Folgen. Alle denken ans schnelle Geld. Und einige landen in der Kriminalität, besonders im Drogenbusiness. Es braucht mehr Informationen vonseiten des Staates und auch vonseiten der anderen Staaten, England, Deutschland, Italien.“

Gespräche mit jungen Leuten, die nichts als weg wollen

Selbst hat Dodaj in Italien jahrelang als Schweißer auf Baustellen gearbeitet. Heute spricht er oft mit jungen Albanern und Albanerinnen, die ihr Land verlassen wollen - und das sind die meisten eines jeden Jahrgangs. Und er wird dann sehr konkret.

„Herr Bischof, wir sind hier geblieben, weil du uns überzeugt hast, zu bleiben“

„Ich lade zum Nachdenken ein. Ich frage: Wieviel wirst du dort verdienen? 2000 Euro kann ich dort verdienen! Schön, aber denk nach: Was wirst du fürs Wohnen und fürs Essen ausgeben müssen? Ich habe selbst einigen jungen Leuten dabei geholfen, hier eine Stelle zu finden, und viele sagen mir: Herr Bischof, wir sind hier geblieben, weil du uns überzeugt hast, zu bleiben. Denn Albanien ist ein Land voller Möglichkeiten. Man hat leider wenig dafür getan, die richtigen Informationen und Hoffnung zu geben.“

Hier zum Hören:

Emigration betrifft alle

Die katholische Kirche ist in Albanien eine kleine Minderheit, das Land ist in großer Mehrheit muslimisch, das Zusammenleben funktioniert im Übrigen reibungslos. Emigration trifft alle Bevölkerungsschichten, alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen, und die Sorge, am Ende ein komplett überaltertes Land zu haben, das zum Gutteil von Überweisungen seiner Kinder aus Europa und Übersee lebt, ist Gesprächsthema auch im interreligiösen Dialog.

„Wir als Katholiken können nicht nur an heute denken, sondern vor allem auch an die Zukunft“

„Ja, es ist natürlich im Interesse der Kirche, wenn junge Leute hier bleiben“, erklärt Erzbischof Dodaj. „Aber die Kirche muss da auch umdenken. Sie kann nicht nur materielle Antworten bieten. Sie muss mehr Hoffnung transportieren, mehr Gründe, hier zu bleiben. Leider hat sie in vielen Jahren nur materielle Begründungen geliefert. Sie hat in Notfällen geholfen, und auch das ist letztlich, wenn es nur dabei bleibt, materialistisch. Meine Priorität ist es, auf Bildung für junge Menschen zu setzen, auf Schule, Universität, und ein neues Führungsdenken zu etablieren. Wir als Katholiken können nicht nur an heute denken, sondern vor allem auch an die Zukunft, so in 20 Jahren. Wir haben heute in Albanien viele gut ausgebildete junge Menschen, die aber sogar materialistischer orientiert sind als die, die weggehen.“

Und der Erzbischof bringt ein Beispiel. Die albanische Hauptstadt Tirana mit ihren 1,1 Millionen Einwohnern hat, sagt Dodaj, nicht ein einziges gutes Gymnasium. Er meint damit: ein katholisches Gymnasium.

„Wir brauchen Menschen, die intellektuell mehr wagen.“

„Wir brauchen Menschen, die intellektuell mehr wagen. Das Schöne ist, dass uns darum die Albaner jeder Religion bitten. Warum macht ihr nicht eine Schule wie die der Jesuiten oder die vom Opus Dei? Der Prinz von Albanien kommt aus einer muslimischen Familie, und er sagte mir: ich möchte gerne meine Tochter an einer katholischen Schule anmelden. So wie als ich mit meiner Familie in Südafrika lebte. Ja, es fehlt das Geld, aber es fehlt auch an unserer Initiative.“

Ideen, um den Exodus zu stoppen

Insgesamt zählt Albanien 35 katholische Schulen – gar nicht so wenige. Aber sie kämpfen mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, weil der Staat ihnen weder den Unterhalt noch die Lehrkräfte bezahlt. Indessen hat der Erzbischof von Tirana auch ein paar weitsichtige Ideen, wie es gelingen kann, die Kurve der Emigration abzuflachen und am Ende sogar umzukehren.

 

„In zwei Jahren sind hier Wahlen. Schlagen wir doch der Regierung vor, dass auch die Auslands-Albaner und -Albanerinnen kandidieren können. Dann kann die Erfahrung dieser Heimkehrenden zur Ressource werden. Sie klagen nicht, sondern bringen eine neue Mentalität mit. Und allein um sich wählen zu lassen, haben sie eine andere wichtige Arbeit geleistet: Sie haben die anderen Albaner vereint, sie zu wählen. Sie werden Förderer des Wiederaufbaus. Es gibt eine Menge Möglichkeiten.“

Ein 16-Jähriger flüchtet aus Albanien

Seine eigene Migrationsgeschichte fand damals unter anderem Vorzeichen statt, so Arjan Dodaj.

„Als wir aus der Diktatur rauskamen, waren wir alle gleich angezogen und alle gleich hager. Es herrschte Hunger.“

„Als der Kommunismus fiel, war ich 14 Jahre alt, und damals wollten alle meine Freunde und Kameraden weg aus Albanien, ins Ausland. Wir wollten weg, weil wir in extremer Armut lebten. Als wir aus der Diktatur rauskamen, waren wir alle gleich angezogen und alle gleich hager. Es herrschte Hunger.“

Zwei Jahre später wagte er die Überfahrt nach Italien, das heißt: die illegale Einreise über die Adria in einem Motorboot mit Schleppern. Eine Million und 600.000 Lire kostete das. „Vom Hafen meiner Stadt bin ich in der Nacht des 15. September 1993 losgefahren, dieses Jahr sind es 30 Jahre. Ich kann mich sehr gut erinnern an den Moment, als wir mit dem Motorboot nachts übers Meer fuhren. Albanien und Italien sind nicht weit voneinander entfernt. Nicht einmal zwei Stunden hat es gedauert.“

1,6 Millionen Lire Schulden bei den Schleppern

Arjan gelangte nach Norditalien, wo schon andere Albaner arbeiteten. „Nach einiger Zeit habe ich einen Job als Schweißer gefunden. Ich war 16, also für Italien minderjährig, und ich war illegal. Aber weil ich großgewachsen bin, habe ich mich für 18 ausgegeben, sonst hätte mich niemand genommen. Ich musste ja arbeiten, um meine Schulden zu zahlen: eine Million und 600.000 Lire.“

Die Eltern, so erzählt es der Erzbischof, hätten mit ihren niedrigen Gehältern in Albanien bis zum Ende ihres Lebens und darüber hinaus arbeiten müssen, um diese Schulden bei den Schleppern abzubezahlen. Eine Art Leibeigenschaft. Warum stieg der junge Arjan Dodaj in dieses Boot?

„Albanien war ein KZ unter freiem Himmel“

„Aber wir lebten dort wie in der Hölle. Die Flucht war gefährlich, aber es war eine Flucht aus echter Verzweiflung. Albanien war ein KZ unter freiem Himmel. Was ihr heute in Nordkorea seht, das haben wir damals erlebt, genau so. Religion, Freiheit, unvorstellbar. Und das prägte die Persönlichkeiten. Die Kultur der Angst, des Terrors.“

Atombunker in Tirana: Er sollte die Regierung im Fall eines Nuklearangriffs aufnehmen. Heute ist der Bunker ein Museum
Atombunker in Tirana: Er sollte die Regierung im Fall eines Nuklearangriffs aufnehmen. Heute ist der Bunker ein Museum

Das müsse man wissen, um manche Reaktionen von Albanern verstehen zu können, erklärt der Erzbischof von Tirana.

„Sie wurden im Kommunismus derart unterdrückt, dass sie dann nach der Wende überkompensiert haben. Sie haben die Freiheit falsch gelebt. In den frühen 90er Jahren sah ich das oft in Italien. Die Angst war weg, an ihrer Stelle eine verzerrte Freiheit: die Freiheit, alles, wirklich alles zu tun. Gewalt, Raub, Menschenhandel, Zwangsprostitution, alles regellos. Albanische Mädchen wurden verschleppt, um sie in Italien oder Deutschland zur Prostitution zu zwingen.“

Von Gott zu reden war lebensgefährlich

Dodaj hat nach wie vor sehr lebendige Erinnerungen an die mörderische Diktatur. Die brutale Unterdrückung namentlich der Religion konnte er sich aber erst im Nachhinein klarmachen. Denn über Religion, Gott und Glauben auch nur zu reden, war lebensgefährlich. Niemand sprach darüber, niemand betete. Mutige Gläubige mauerten Heiligenbilder in der Wand ein, merkten sich die Stelle und blieben in all den Jahren zum geheimen Gebet davor stehen. Arjan Dodaj, der Erzbischof von Tirana, wuchs ohne Gott auf, wie die anderen jungen Albaner seiner Generation.

„Wir haben nie auch nur die Existenz eines Gottes gemutmaßt. Es gab keinerlei wie auch immer geartete religiöse Zeichen.“

„Ich habe in meiner Familie nie von Gott reden gehört. Mit den Gleichaltrigen – nie. Wir haben nie auch nur die Existenz eines Gottes gemutmaßt. Es gab keinerlei wie auch immer geartete religiöse Zeichen. Ich wusste nicht, dass der Halbmond den Islam symbolisiert und das Kreuz das Christentum. Nie hat jemand ein Kreuz um den Hals getragen. Hinter unserem Haus war ein großes Magazin, darin lagerte Mehl. Als Kinder spielten wir dort Verstecken. Einmal habe ich mich ganz hinten versteckt, und da sah ich auf einmal eine große Statue von Jesus mit dem heiligsten Herzen, komplett weiß und mit Mehl bedeckt. Ich war terrorisiert vor Angst und bin panisch weggelaufen. Dieses Lagerhaus wurde später eine Spielhalle. Eines Tages 1991 sehen wir alle Alten der Stadt vor dem Tor der Spielhalle, und wir durften nicht rein. Da sagten sie uns: Das ist keine Spielhalle. Das ist unsere Kirche. Es war die alte Kirche gewesen. Und heute ist das die Pfarrkirche meiner Stadt Laç.“

Vom Flüchtling zum Erzbischof: Arjan Dodaj
Vom Flüchtling zum Erzbischof: Arjan Dodaj

Den Glauben lernte Arjan Dodaj erst in Italien kennen. Das kam so: Er lebte in einem Jugendheim in der Nähe einer Kirche. Der Heimleiter riet ihm, doch einmal zur Jugendgruppe hinüberzugehen, die sich dort regelmäßig zum Gebet traf.

„Ich hatte keine Lust, mir sagte das ja alles nichts, Kirche und so. Aber eines Tages ging ich doch, um ihm einen Gefallen zu tun. Ich klopfe, und es öffnet mir ein Priester, Don Massimo, ich sage: Ich bin aus Albanien, und er: Ah, das Land von Mutter Teresa! Und ich: wie bitte? Mir war Mutter Teresa kein Begriff. Wer ist Mutter Teresa…? Und er sagte, wenn du kommen magst, komm doch. Diese jungen Leute waren so freudig und begeistert, und ich habe mich dort sofort wohlgefühlt.“

Tagsüber Baustelle, abends Jugendgruppe

„Wenn sie beteten, dann sagten sie – das ist mir dann aufgefallen – dieselben Worte wie meine Großmutter auf Albanisch. Unsere Großeltern hatten die Gebete als Reime gelernt. Und sie sangen sie. Denn viele von ihnen konnten nicht lesen und schreiben. Also lernten sie die Gebete und den Katechismus als Reime. Und meine Großmutter sang immer zu Hause. Aber ich wusste damals nicht, dass sie betete.

„Sie stand da am Fenster mit dem Rücken zu uns, 40 Minuten jeden Tag, und sang leise“

Ich erinnere mich sehr gut daran, wie sie mir den zweiten Teil des Ave Maria beibrachte. Sie sang den ersten Teil, ich den zweiten. Ich dachte, das sei einfach ein Lied. Und so habe ich nachträglich entdeckt, dass die Großmutter uns die ganze Zeit mit dem Gebet begleitete. Das habe ich erst in Italien realisiert! Sie stand mit dieser Schnur am Fenster – ein Rosenkranz, den mein Großvater aus Olivenkernen gemacht hatte, ich hatte keine Ahnung damals, was das war – sie stand da am Fenster mit dem Rücken zu uns, 40 Minuten jeden Tag, und sang leise. Gegenüber war ein Stall; erst viel später ist mir klargeworden, dass das eine Kirche gewesen war, wo sie früher immer gebetet hatte.“

„Da war auf einmal ein Sinn für die lebendige Anwesenheit Gottes“

In seiner katholischen Jugendgruppe dort in Italien erwachte etwas in Arjan, dem 16-jährigen albanischen Arbeiter.

„Diese jungen Leute in der Kirche beteten, und da habe ich auch damit begonnen, es ist sozusagen aus meinem Unterbewusstsein wieder aufgetaucht. Da war auf einmal ein Sinn für die lebendige Anwesenheit Gottes. Bei uns war ja alles so materialistisch. Aber dort in der Kirche beim Gebet habe ich mich von Gott umschlossen gefühlt. Unser Gott ist konkret. Verbum Caro factum est.“

Nach einem Jahr Katechese empfing Arjan Dodaj mit 17 Jahren die Taufe.  

„Wenn du berufen bist zu dienen, dann nicht nur um zu empfangen, sondern auch um zu geben“

„Ich fühlte in der Zeit, wie Gott mir nahe war. Ich hätte diesen Weg des Glaubens sonst nicht eingeschlagen, mit dem Kopf, den ich damals noch vom Materialismus geprägt hatte. 1994 habe ich die Taufe empfangen und habe weiter auf dem Bau gearbeitet, bis 1996. Das war wichtig für mich, ein Geschenk Gottes, denn deine Berufung muss auch auf die Probe gestellt werden. Du musst, wie Paulus sagt, mit deinen Händen genügen. Wenn du berufen bist zu dienen, dann nicht nur um zu empfangen, sondern auch um zu geben.“

Vom Arbeiter zum Priester zum Bischof

1997 dann tritt Arjan ins Priesterseminar in Rom ein. Am 11. Mai 2003 – vor 20 Jahren - empfängt er die Priesterweihe durch Johannes Paul II. 2020 ernennt Papst Franziskus diesen Priester mit Migrationshintergrund zum Erzbischof von Tirana. Und wenn Arjan Dodaj heute mit jungen Landsleuten spricht, die nichts anderes wollen als auswandern, weg von Albanien, dann schwingt seine eigene Vergangenheit bei jedem Wort mit, das er sagt.

Erzbischof Dodaj bei Papst Frarnziskus
Erzbischof Dodaj bei Papst Frarnziskus

„Alles, was du draußen erhalten wirst, wird nicht das aufwiegen, was du zurücklässt“

„Meine Botschaft ist immer dieselbe, und ich sage sie ausgehend von meiner persönlichen Geschichte. Alles, was du draußen erhalten wirst, wird nicht das aufwiegen, was du zurücklässt. Und ich sage ihnen: du kannst gehen, klar – aber mach nicht die Tür hinter dir zu.“

„Sie fehlen. Immer. Irgendwo. Arbeitsmigration aus Osteuropa“ ist das Motto der diesjährigen Pfingstaktion von Renovabis. Sie wird am kommenden Sonntag in Hildesheim eröffnet. In den Tagen vor Pfingsten lädt das Hilfswerk zu einer Gebetsnovene in Solidarität mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa ein.

(vatican news – gs)

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10. Mai 2023, 17:21