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Nuntius in Kyiv: Wenn nur noch Beten hilft

Ein Jahr nach dem Einmarsch der Russen in der Ukraine: Der päpstliche Nuntius, Visvaldas Kulbokas, berichtet in unserem Interview von den Leiden und Hoffnungen eines Volkes.

Svitlana Dukhovych - Vatikanstadt

Er ist nicht ausgereist, als Russland vor einem Jahr die Ukraine überfiel, sondern in Kyiv geblieben: der päpstliche Nuntius Visvaldas Kulbokas. Um den Jahrestag des Kriegsausbruchs zu markieren, nimmt er an diesem Freitag an einer Gebetswache im Marienwallfahrtsort Berdytschiw teil, die die lateinischen Bischöfe des Landes organisiert haben.

Interview

Exzellenz, warum ist es wichtig, diesen Tag mit dem Gebet zu begehen?

„Warum Gebet… das würde ich so erklären. Jesus sagt im Evangelium, wir sollten Menschen in Not beistehen – doch kann man leider in diesem Krieg in vielen Situationen nicht so helfen, wie man will. Zum Beispiel habe ich im letzten März, auch mit dem Segen von Papst Franziskus, versucht, nach Mariupol zu fahren, um Menschen zu evakuieren, Wasser und Brot zu bringen... Aber es ging nicht, ich bekam keine Erlaubnis. Kardinal Krajewski hat im April dasselbe versucht, aber auch er schaffte es nicht.

Hier das ganze Interview zum Nachhören

Jetzt versuchen unsere Priester, Ordensmänner und -frauen, Freiwillige, Hilfe in die Regionen Cherson, Saporischschja, Bachmut, Charkiw zu bringen, und viele von ihnen geraten unter Beschuss, wie es auch Krajewski selbst im vergangenen September passiert ist. Auch unsere griechisch-katholischen Priester, die im November letzten Jahres gefangen genommen wurden, zwei Redemptoristenpatres, die in Berdjansk arbeiten, können wir nicht besuchen. Es ist ein sehr starker Kontrast: Unter diesen Kriegsbedingungen können wir das Evangelium nicht verwirklichen. Zumindest nicht in allen Situationen und nicht in allen Regionen.“

Erzbischof Kulbokas
Erzbischof Kulbokas

„Unter diesen Kriegsbedingungen können wir das Evangelium nicht verwirklichen“

Also, darum scheint Ihnen das Gebet umso wichtiger…

„Ja. Wir wollen den Herrn und die Muttergottes bitten: Lass uns in die von Gott geschaffene Welt zurückkehren, denn die Welt, in der wir jetzt leben, ist durch Gewalt, Aggression und Krieg entstanden – das ist nicht die Welt Gottes. Ich habe vor ein paar Tagen die Geschichte der Kiewer Rus' erneut gelesen. Die Kiewer Rus', also eben dieses Kyiv, in dem ich mich jetzt befinde, wurde schon im 11. Jahrhundert, um das Jahr 1037, als Staat, als Fürstentum dem Schutz der Jungfrau Maria anvertraut. Das Fürstentum Kyiv gehört in der Geschichte der Menschheit, in der Geschichte des Christentums zu den ältesten Gebilden, zu den ältesten Staaten, die dem Schutz der Gottesmutter anvertraut sind.

Als der Heilige Vater Franziskus im vergangenen Jahr gemeinsam mit allen Bischöfen der Welt die Ukraine und Russland dem Unbefleckten Herzen Mariens neu geweiht hat, war dies ein Akt, in dem die Weihe der Ukraine an die Jungfrau Maria erneuert wurde. Darum beten wir an diesem 24. Februar wieder zur Jungfrau Maria. Weil wir ganz klar sehen, dass in Krieg keine andere Lösung gefunden werden kann, es bleibt nur das göttliche Wunder, es bleibt nur das Gebet, das ist unsere wichtigste geistige Waffe, die wirksamste.“

„Wir wissen hier nie, was wir im nächsten Moment erleben werden“

Hat sich die Wahrnehmung Ihres Auftrags als Nuntius in diesem Kriegsjahr verändert?

„Sicherlich gibt es verschiedene Aspekte, aber ich möchte einen besonders hervorheben, den spirituellen Aspekt. Zunächst einmal wissen wir hier nie, was wir im nächsten Moment erleben werden: ob ein Treffen zustandekommen wird, ob wir Licht haben werden, ob wir eine Telefonverbindung haben werden oder ob stattdessen eine Rakete oder eine Drohne auftauchen wird... Deshalb ist es ein ständiges Schauen auf Gott, es ist eine sehr intensive geistliche Hoffnung, für die ich dem Herrn sehr dankbar bin, denn sie ist ein Geschenk. Für mich selbst sehe ich die Fülle dessen, was ich als Aufgabe eines päpstlichen Nuntius verstehe: einerseits weiterhin den Heiligen Vater und die Kirche zu vertreten und andererseits persönlich eine ständige und sehr intensive geistliche Herausforderung zu erleben.“

Kulbokas (l.) mit dem vatikanischen Außenminister, Erzbischof Gallagher, im Mai letzten Jahres in Butscha
Kulbokas (l.) mit dem vatikanischen Außenminister, Erzbischof Gallagher, im Mai letzten Jahres in Butscha

Aus vielen Teilen der Ukraine hört man, dass die Menschen des Krieges überdrüssig sind. Nehmen Sie dieses Gefühl auch wahr? Was können Katholiken in aller Welt tun, um dem ukrainischen Volk in dieser Zeit zu helfen? Haben sich die Bedürfnisse seit der ersten Hälfte des Jahres verändert?

„Es ist klar, dass die Müdigkeit auf allen Ebenen zu spüren ist, denn es war ein sehr anstrengendes Jahr. Ich habe vor ein paar Tagen die Statistik gesehen: 150.000 zerstörte Häuser. Das sind nicht nur Zahlen, denn jede Zerstörung verursacht nicht nur Schmerz, nicht nur Verlust, sondern auch Not... Die Freiwilligen und die Priester erzählen mir, dass die Menschen, wenn sie Brot bekommen, sofort anfangen zu essen... Es gibt auch eine große Müdigkeit in der Region Charkiw, wo es so viele Häuser ohne Fenster gibt und so viele Menschen in Kellern leben. Oder in Bachmut, wo die Menschen aus den Notunterkünften kommen, um sich von Caritas-Freiwilligen Essen bringen zu lassen, und dann zurücklaufen, um sich in den Unterkünften zu verstecken.

Der Bedarf ist gestiegen, und zwar um ein Vielfaches im Vergleich zu den Anfängen, denn jetzt fehlt es nicht nur an Nahrungsmitteln, sondern auch an Heizmaterial, und so viele Organisationen und Wohltäter haben bereits Generatoren oder Öfen gespendet. Und dann gibt es noch andere, noch dringendere Bedürfnisse: Vielerorts besteht ein großer Bedarf an Psychologen, um Familienangehörige zu beraten, wie sie mit psychologischen Traumata umgehen können…; und dann sind da noch die Verwundeten. Und die schwierige Lage der Kinder. Es gibt so viele Organisationen, die sich freuen würden, wenn sie ukrainischen Kindern in den Ländern rund um die Ukraine Gastfreundschaft anbieten könnten, damit die Kinder einige Wochen an einem ruhigen Ort verbringen, ohne ständig unter dem Stress des Krieges zu stehen.“

Papst Franziskus
Papst Franziskus

„Leider bringen nicht alle religiösen Führer diese Nähe zu den leidenden Menschen zum Ausdruck“

Franziskus hat sich die Ukraine das ganze Jahr über zu Herzen genommen und bei praktisch jedem öffentlichen Auftritt seine Solidarität, seine Nähe zu den von dieser schrecklichen Tragödie betroffenen Menschen bekundet. Welchen Eindruck machen diese Worte auf Sie und auf die Menschen, mit denen Sie sprechen?

„Da will ich vor allem unterstreichen, was mir sowohl von Regierungsvertretern als auch von Vertretern anderer Kirchen gesagt wird: ‚Leider bringen nicht alle religiösen Führer diese Nähe zu den leidenden Menschen zum Ausdruck und zeigen sie. Bei Papst Franziskus ist dies offensichtlich…‘ In einem Brief, den Franziskus am 25. November an alle Ukrainer gerichtet hat, kommen zwei sehr wichtige Aspekte zum Ausdruck: zum einen die große Empathie, die große Nähe zu den Leidenden. Das hat jeder wahrgenommen. Und zweitens – es weiß ja jeder, dass Gesten oder Begriffe in verschiedenen Ländern nicht in gleicher Weise verstanden werden, das gilt umso mehr für die Ukraine, die den Krieg unmittelbar erlebt. Auch in dieser Hinsicht war der Brief sehr wichtig und zeigte deutlich, wie der Heilige Vater die Dinge sieht. Dies wurde mir auch von den Führern anderer Kirchen - ich spreche hier nicht von den Katholiken, sondern auch von den Führern anderer Kirchen -, den Diplomaten und auch von Regierungsvertretern gesagt: Sie alle schätzen die Klarheit und die große Wärme, die aus diesem Brief spricht.“

(vatican news – sk)
 

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24. Februar 2023, 10:35