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Die Siedlung Sotk, die Berichten zufolge von Truppen Aserbaidschans beschossen wurde, am 14. September Die Siedlung Sotk, die Berichten zufolge von Truppen Aserbaidschans beschossen wurde, am 14. September 

Bischof: „Für Armenien geht es ums Überleben“

Für Armenien geht es im Konflikt mit Aserbaidschan um das schiere Überleben seiner Staatlichkeit. Das schreibt der Wiener armenische Bischof Tiran Petrosyan in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Die Tagespost“.

Nach zwei Tagen schwerer Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien wurde am 14. September eine Waffenruhe verkündet. Diese sei aber bestenfalls eine kurze „Kampfpause“, weil es den armenischen Soldaten gelungen sei, die Angreifer zurückzudrängen. Dörfer und Städte seien evakuiert worden, doch die Männer seien geblieben und kampfbereit. „Kein Armenier wünscht eine Eskalation, aber wir müssen damit rechnen“, so der Bischof.

Das Ziel der aserbaidschanischen Offensive sei es, einen Korridor quer durch Armenien zu der an die Türkei grenzenden Exklave Nachitschewan zu schaffen, so der Bischof. Zwar habe Armenien dem verfeindeten Nachbarn den Transit durch das Land zugestanden, doch wolle Baku einen Korridor unter eigener Kontrolle. Damit jedoch würde Armenien in zwei Teile zerschnitten - und die Türkei könnte Aserbaidschan unbeobachtet und direkt schwere Waffen liefern. „Das wäre nicht nur für Armenien, sondern für die gesamte Region äußerst gefährlich“, warnte Bischof Petrosyan.

Droht der Dritte Weltkrieg?

Der Iran hat unterdessen aber erklärt, er werde eine Änderung der Grenzen nicht zulassen. Der Iran blickt misstrauisch auf die Aserbaidschaner, weil im Norden des Iran 15 bis 20 Millionen Aserbaidschaner leben und zum Separatismus neigen. Bischof Petrosyan: „Die sunnitischen Türken und die schiitischen Aserbaidschaner verstehen sich als Brudervölker. Die Iraner und die Aserbaidschaner sind keine Freunde. Wenn es tatsächlich zu einem Korridor Aserbaidschans nach Nachitschewan kommen sollte, könnte sich der Iran militärisch einmischen - nicht um Armenien zu schützen, sondern seine eigenen Interessen. Dann droht vielleicht der Dritte Weltkrieg.“

Sotk
Sotk

Er könne angesichts dieser Lage und auch angesichts der Vertreibung der Armenier aus Berg-Karabach, der Zerstörung armenischen Kulturgutes und zahlreicher dokumentierter Kriegsverbrechen, Gräueltaten gegen armenische Zivilisten und Kriegsgefangene nicht verstehen, weshalb Europa schweige, sagte der Bischof. Er warf der EU eine „unverständliche und inakzeptable Doppelmoral“ vor: „Es gibt Sanktionen gegen Putin, der Krieg gegen die Ukraine führt, aber ein Abkommen mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Alijew, der Krieg gegen das demokratische Armenien führt“. Nur eine klare Verurteilung der aserbaidschanischen Aggression, eine starke und unmissverständliche Reaktion der Weltgemeinschaft könnten eine weitere Eskalation verhindern.

„Das ist ein Existenzkampf“

Die Vereinten Nationen und die OSZE sollten Beobachter an der Grenze installieren, um sich selbst ein Bild zu machen. Aserbaidschans Behauptung, Armenien habe provoziert, sei „eine dreiste Lüge“, so der Bischof.

Petrosyan rechnete gegenüber der „Tagespost“ mit einer Eskalation, weil Alijew seine Kriegsziele noch nicht erreichte, aber die internationalen Reaktionen auf die zweitägigen Kämpfe als Ermutigung verstehen musste. Petrosyan: „Alle Männer und viele Frauen in Armenien sind bereit, ihr Land zu verteidigen. Das ist ein Existenzkampf!“ Es sei nicht auszuschließen, dass es in einer Woche bereits Kämpfe um die Hauptstadt gibt. „Wenn Aserbaidschan mit Unterstützung der Türkei kämpft, dann stehen 94 Millionen Menschen 2,9 Millionen gegenüber.“ Armenien habe dafür nicht die nötigen Ressourcen: „Wir brauchen internationale Sicherheitsgarantien und Beobachter unter UNO-Kommando.“

Es geht jetzt „um die Existenz unseres Landes“. Darum habe Katholikos Karekin II., das Oberhaupt der armenisch-apostolischen Kirche, an andere Kirchenoberhäupter appelliert, Druck auf die Politik ihrer Länder auszuüben. Es müsse verhindert werden, dass jetzt noch größere Angriffe folgen.

Sotk
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„Konflikt hat mit Religion nur wenig zu tun“

Die österreichische Armenologin Jasmin Dum-Tragut, die sich derzeit in Jerewan aufhält, teilte gegenüber der „Tagespost“ die Einschätzung des Bischofs: „Die Aserbaidschaner wollen einen Korridor durch armenisches Territorium erzwingen, der ihr Land mit Nachitschewan verbinden soll. Dadurch würden sie sich den Umweg über den Iran sparen, doch zugleich würde der Süden Armeniens abgeschnitten“. Vertreter der internationalen Gemeinschaft sollten jetzt rasch ins Land kommen, um sich alles anzusehen. „Die Darstellung der Aserbaidschaner, sie seien von Armenien provoziert worden, ist Unsinn“, sagte Dum-Tragut. Die Armenier wollten nur Ruhe haben, doch Baku nutze die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit jetzt auf der Ukraine liegt und habe zudem mit Europa gute Verträge abgeschlossen.

„Ich sehe in dieser Region keine Lösung, sondern nur Konfliktmanagement“, so Dum-Tragut ernüchtert. Für Armenien sei weder eine Aserbaidschanisierung von Berg-Karabach noch ein Abschneiden des Südens akzeptabel. „Wer Armenien kennt, weiß, dass Südarmenien das Rückgrat des Landes ist. Die Menschen im Süden Armeniens sind widerstandsfähiger und kampfbereiter; sie haben eine andere Mentalität als die Armenier in der Ararat-Ebene.“ Auch seien im Süden die wichtigsten Kulturschätze.

Religion sei ein Teil der Identität, spiele für den Konflikt aber kaum eine Rolle. „Meiner Meinung nach hat dieser Konflikt mit Religion nur am Rande zu tun. Es handelt sind um einen ethnischen und territorialen Konflikt“, so die Einschätzung der Armenien-Expertin.

(kap – sk)
 

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23. September 2022, 11:43