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Ein Leben inmitten von Krieg und Armut: Zwei Jungen in Syrien Ein Leben inmitten von Krieg und Armut: Zwei Jungen in Syrien 

Zenari über Syrien: „Eine der größten humanitären Krisen"

In Syrien herrscht „nach wie vor eine der größten humanitären Krisen der Welt“. Im Interview mit Radio Vatikan schildert der Nuntius in Damaskus, Kardinal Mario Zenari, die vielfältige Not, die in dem Kriegsland herrscht, und ruft zu internationaler Unterstützung auf. Der Diplomat tauschte sich am Samstag mit Papst Franziskus im Vatikan aus.

Salvatore Cernuzio und Anne Preckel - Vatikanstadt

„Zusätzlich zu den zahllosen Toten, die dieser Konflikt verursacht hat, leben etwa 14 Millionen Menschen - von den 23 Millionen, die es früher gab - außerhalb ihrer Häuser, außerhalb ihrer Dörfer, außerhalb ihrer Städte. Etwa sieben Millionen Menschen hingegen sind Binnenvertriebene, die bei schlechtem Wetter manchmal unter Bäumen oder in Zelten leben. Dieses Jahr war ein besonders harter Winter, vor allem im Nordwesten, und viele Zelte sind unter der Schneelast zusammengebrochen. Darüber hinaus gibt es Millionen von Flüchtlingen in den Nachbarländern. Es handelt sich um eine riesige humanitäre Katastrophe. Riesig...“

Kein Wiederaufbau und keine Lösung in Sicht

Mehr als zehn Jahre nach Kriegsbeginn ist der Großteil des Landes zwar wieder unter Kontrolle des Assad-Regimes, interne Spannungen sind aber nicht aufgelöst. Auch haben mehrere Nationen – darunter Russland, die Türkei und Israel – in Syrien ihre Hände mit im Spiel. Jensits der geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen breiten sich Armut und Hunger immer mehr aus. „Licht am Ende des Tunnels“ sei in Syrien vorerst nicht zu sehen, urteilt Zenari. Das hänge auch mit den Folgen des Ukraine-Krieges und den internationalen Sanktionen zusammen:

„Wir sehen keinen Wiederaufbau, wir sehen keinen wirtschaftlichen Aufschwung. Mit dem Krieg in der Ukraine ist die Frage der Aufhebung der Sanktionen noch problematischer geworden. Vor allem aber gibt es die Sanktionen der Europäischen Union und der USA, die noch härter sind und diejenigen bestrafen, die nach Syrien gehen wollen, um die Wirtschaft wieder aufzubauen. Unter diesem Gesichtspunkt hat der Krieg in der Ukraine die Lage in Syrien sicherlich verschlimmert. Die Menschen, viele Menschen, haben deshalb die Hoffnung verloren. Vor allem die jungen Menschen, die sich bemühen, auszuwandern, und uns bitten, ihnen bei der Ausreise zu helfen.“

Kardinal Mario Zenari, Nuntius des Papstes in Damaskus
Kardinal Mario Zenari, Nuntius des Papstes in Damaskus

Armut explodiert überall

Auch für die christliche Gemeinschaft bedeute dies einen regelrechten Aderlass: Heute habe sie „mehr als die Hälfte der Christen, in einigen Fällen sogar zwei Drittel verloren“, berichtet der Vatikanvertreter in Syrien. Das schade auch der syrischen Gesellschaft insgesamt, so Kardinal Zenari, denn die Christen seien „mit ihrem offenen, universellen und unternehmerischen Geist, mit ihrem Engagement für Bildung und Gesundheit eine echte Stütze für das ganze Land“. Dass die christliche Präsenz nun - nach zweitausend Jahre Geschichte – massiv schwinde, sei „für alle eine Wunde“.

Bereits vor einem Jahr hatte der Nuntius über einen massiven Armutszuwachs in Syrien berichtet. Diese Lage habe sich weiter verschlechtert, berichtet er und gibt wieder, woran sich dies zeigt:

„In Damaskus und anderen Städten sieht man Menschenschlangen vor den Bäckereien sieht, die zu staatlich regulierten Preisen verkaufen. Diese Schlangen hat man nicht einmal während des Krieges gesehen. Die Menschen haben kein Geld für Lebensmittel und gehen zu diesen Bäckereien, wo sie Brot für hundert statt tausend syrische Lira bekommen. Das ist wirklich bewegend. Und dann ist es ein großer Kampf, an Benzin zu kommen – und das, wenn man bedenkt, dass Syrien über mehrere Ölquellen verfügt, die einen großen Teil des nationalen Bedarfs decken. Auch gibt es keinen Diesel: Die Menschen hatten keinen Brennstoff, um ihre Öfen während des Winters anzuheizen, und der Winter war sehr hart. Denken wir an diejenigen, die unter der Kälte litten, vor allem Ältere und Kinder! Es fehlt an grundlegenden Dingen, die wir für selbstverständlich halten, etwa Strom. In weiten Teilen Syriens gibt es nur zwei Stunden Strom pro Tag.“

Straßenverkäufer in einem Vorort von Damaskus - Archivbild
Straßenverkäufer in einem Vorort von Damaskus - Archivbild

Helfen: Wo ein Wille ist, ist nicht immer ein Weg

Wegen des Gasmangels könnten auch die Suppenküchen in Syrien nur reduziert arbeiten, berichtet Zenari weiter. So könne man vielleicht mit Spenden aus dem Ausland Essen für Arme organisieren, kochen könne man dieses aber nur zum Teil, denn es fehle das Gas zum Kochen, merkt er an.

Papst Franziskus hat bei einer Begegnung mit Vertretern der melkitischen griechisch-katholischen Kirche am Montag an die Not Syriens erinnert und zu einer „fairen und gerechten Lösung“ für das Kriegsland aufgerufen. Der Nuntius des Papstes bedauert, dass Syrien bereits seit einiger Zeit aus dem Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und der internationalen Medien gerutscht ist.

„Das liegt nicht nur am Konflikt in der Ukraine. Bereits vorher gab es Covid und die Finanzkrise der Banken im Libanon, die ein Schlag für Syrien war, da alle, auch die Kirchen, die humanitäre Hilfe erhalten, Geld in libanesischen Banken deponiert hatten. Jahrelang war es schwierig, Geld zu überweisen und vor allem zu empfangen. Darüber hinaus nimmt die Hilfe christlicher humanitärer Organisationen ab: Sie kümmern sich weiterhin um den Nahen Osten, aber die Dringlichkeit liegt jetzt eindeutig in der Ukraine.“

Ein Lastwagen mit Hilfen des Welternährungsprogramms in der Provinz Idlib
Ein Lastwagen mit Hilfen des Welternährungsprogramms in der Provinz Idlib

Spaltungen, Konfliktherde, Partikularinteressen

Außerdem sei die Zahl der humanitären Korridore in den letzten drei Jahren von vier auf nur noch einen geschrumpft. Diese Korridore hingen von Resolutionen des Sicherheitsrats ab, gegen die ein Veto eingelegt werden könne, erläutert Zenari. Das UN-Mandat für den letzten humanitären Korridor laufe am 10. Juli aus – „und ich hoffe und bete, dass er nicht geschlossen wird“, so der Vatikanvertreter: „Das wäre eine Katastrophe! Aber das Risiko ist vorhanden. Wie ich immer sage: Eine Krise schadet einer anderen Krise. Das tut wirklich weh, und die Menschen fühlen sich im Stich gelassen.“

Syrien ist nach über einem Jahrzehnt Krieg territorial und gesellschaftlich tief gespalten. Zenari schildert im Interview mit Radio Vatikan, welchen Einfluss darauf die verschiedenen Nationen und Fraktionen haben, die in Syrien agieren.

„Die Türkei hat ein Gebiet im Norden Syriens besetzt und sich insbesondere in einem Gebiet in der nordwestlichen Provinz Idlib stationiert. Einige Infrastrukturen, wie z.B. die Telefonanbieter, werden von der Türkei bereitgestellt, und seit einiger Zeit wird auch die türkische Währung verwendet. Dann gibt es den Nordosten Syriens, der unter dem Einfluss und der Verwaltung der Kurden steht, die über die Ölquellen verfügen. Dort befindet sich auch ein Teil der amerikanischen Armee. Israel führt auch regelmäßig Angriffe gegen militärische Ziele der Hisbollah oder des Iran durch. Letzte Woche bombardierten sie zum ersten Mal die Landebahn des Flughafens von Damaskus. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass einige Landstriche von kriminellen Banden oder Überresten des Daesh (IS) besetzt sind. Es ist, kurz gesagt, ein Syrien, das seine Einheit verloren hat. Es ist wirklich eine Qual, diese politische Karte zu sehen, man weiß nicht, wo man anfangen soll, sie zu flicken. Was für eine Katastrophe...“

„Ich bleibe, zumindest so lange, wie Gott es will und mir Gesundheit gewährt“

Kardinal Mario Zenari ist seit 2008 Nuntius in Damaskus und hätte eigentlich bereits vor einem Jahr emeritiert werden sollen. Angesichts der sich verschlechternden Lage im Land fühlt er sich aber umso mehr verantwortlich, Syrien gerade jetzt nicht den Rücken zu kehren, vertraut er Radio Vatikan an. So wolle er weitermachen und bleiben – „zumindest so lange, wie Gott es will und mir Gesundheit gewährt“.

(vatican news – pr)
 

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21. Juni 2022, 12:22