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Kardinal Anders Arborelius von Stockholm Kardinal Anders Arborelius von Stockholm 

Schweden, der Krieg und die NATO: Gespräch mit Kardinal Arborelius

Schweden hat sehr unruhige Ostertage erlebt: Ausschreitungen, Gewalt, Verletzte, Zusammenstöße zwischen vor allem jugendlichen Demonstranten und der Polizei, Dutzende von Festnahmen in mehreren Städten.

Darüber (und über einige andere Themen) sprachen wir mit Kardinal Anders Arborelius, dem Bischof der einzigen katholischen Diözese in Schweden, nämlich Stockholm.

Interview

Die Unruhen hängen offenbar mit der Ankündigung eines rechtsextremen Politikers aus Dänemark zusammen, Exemplare des Korans zu verbrennen. Können Sie das bitte einordnen?

„Ja. Die Polizei wurde von jungen Menschen angegriffen, die gegen die Koran-Verbrennungs-Aktion dieses Politikers demonstrieren wollten. In mehreren Orten Schwedens kam es zu diesen Unruhen. In einem Ort blieb es allerdings friedlich – und zwar, weil die Menschen die Atmosphäre vorbereitet hatten. Die verschiedenen Glaubensgemeinschaften und andere hatten daran gearbeitet, die Situation zu beruhigen. Und der lutherische Pfarrer hat sogar die Glocken geläutet, als diese Demonstration begann…

Hier zum Nachhören

Aber anderswo war es ein sehr gewalttätiges Ostern. Das macht deutlich, dass Schweden sich um die Tatsache kümmern muss, dass es in manchen Gegenden des Landes fast nur Ausländer mit geringem Einkommen, ohne Arbeit, mit Kriminalität gibt. Für unsere Gesellschaft ist es wirklich wichtig, etwas gegen diese Absonderung zu unternehmen.“

Brennendes Polizeiauto nach Ausschreitungen in Orebro am 15. April
Brennendes Polizeiauto nach Ausschreitungen in Orebro am 15. April

Wie ist es denn um das ökumenische und interreligiöse Verhältnis in Schweden bestellt?

„Ich denke, dass es in Schweden sehr wichtig wäre, einen vertieften Dialog zu beginnen. Aber stattdessen sehen wir zum Beispiel, dass einige der Parteien jetzt konfessionelle Schulen verbieten wollen.“

„Nun, wir sehen, dass Schweden ein sehr säkulares Land ist, und die Behörden sehen einfach darüber hinweg, dass viele der Einwanderer starke religiöse Überzeugungen haben. Und bei den Einwanderern kommt das dann so an, als würden sie nicht akzeptiert – erst recht, wenn der Koran verbrannt wird. Es gab auch schon Fälle, in denen Statuen der Gottesmutter verstümmelt oder zerstört wurden…

Ich würde schon sagen, dass es antireligiöse Gefühle in der schwedischen Bevölkerung gibt. Das heißt natürlich nicht, dass man die Polizei angreifen darf. Aber wir müssen den Hintergrund verstehen: dass Menschen das Gefühl haben, dass sie außerhalb der Gesellschaft stehen und dass niemand sie respektiert. Bei so einem Eindruck ist es unausweichlich, dass es irgendwann zu Gewalt in unseren Vorstädten kommt.

Ich denke, dass es in Schweden sehr wichtig wäre, einen vertieften Dialog zu beginnen. Aber stattdessen sehen wir zum Beispiel, dass einige der Parteien jetzt konfessionelle Schulen verbieten wollen. Das ist also auch ein Zeichen, das uns heute beunruhigt.“

Papst Franziskus 2016 bei einem ökumenischen Gottesdienst im schwedischen Lund
Papst Franziskus 2016 bei einem ökumenischen Gottesdienst im schwedischen Lund

Wie hat sich der Krieg in der Ukraine auf Schweden und die Kirche ausgewirkt, auch im Hinblick auf Flüchtlinge? Die katholische Kirche in Schweden besteht ja selbst fast ausschließlich aus Einwanderern…

„Nun, Schweden hat eine große Anzahl von ukrainischen Flüchtlingen aufnehmen können. Die letzte Zahl, von der ich gehört habe, war etwa 40.000. Die sind über das ganze Land verteilt. In unserer Diözese haben wir zwei ukrainische Priester des byzantinischen Ritus, die waren sehr aktiv und haben versucht, die Menschen zu erreichen und die Organisation zu übernehmen. Am Ostermorgen hatten wir einen ukrainischen Gottesdienst, der war voll mit Gläubigen.

Die meisten Ukrainer sind allerdings orthodox, und für die Orthodoxen war es schwieriger, Priester zu finden, die sich um sie kümmern. Wir sehen, dass die schwedische Bevölkerung im Allgemeinen sehr offen für diese Gruppe von Menschen ist. Ich war ein wenig überrascht, denn in letzter Zeit hatten wir eher weniger Offenheit und Solidarität für Flüchtlinge gesehen. Aber der Krieg in der Ukraine hat offenbar aus der Sicht der Schweden einen Unterschied gemacht; auch viele private Familien nehmen Ukrainer in ihren Häusern und Wohnungen auf. Bis jetzt sind die Menschen im Allgemeinen sehr offen.

Natürlich versuchen wir auch in den Kirchengemeinden zu helfen, wo wir können. Die Caritas war sehr aktiv und hat vor Menschenhandel gewarnt, weil wir leider sehen, dass einige der ukrainischen Frauen zur Prostitution gezwungen wurden. Es besteht also die Gefahr, dass es auch diese tragischen Fälle gibt, in denen Flüchtlinge missbraucht und misshandelt werden.“

Die Regierungschefinnen von Finnland und Schweden, Marin und Andersson (l.), berieten kürzlich über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft ihrer beiden Länder
Die Regierungschefinnen von Finnland und Schweden, Marin und Andersson (l.), berieten kürzlich über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft ihrer beiden Länder

Umfragen zufolge spricht sich mittlerweile eine wachsende Mehrheit der Schweden für einen NATO-Beitritt aus. Wie kommt das? Erleben Sie einen Stimmungsumschwung?

„Nun, natürlich denkt Schweden jetzt über seine politische Lage im Hinblick auf die Verteidigung nach. Nach dem Angriff auf die Ukraine sind die Behörden und viele Menschen in Schweden ein wenig besorgt; es gibt also eine neue politische Situation im Land.

Was einen möglichen NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens betrifft, wissen wir noch nicht, was passieren wird. Wir befinden uns also in einer Situation der Unsicherheit, und in der Gesellschaft und auch in den Glaubensgemeinschaften werden viele Fragen aufgeworfen. Es ist wirklich schwierig zu erkennen, wie wir uns in dieser Situation verhalten sollten.

„Nach dem Angriff auf die Ukraine sind die Behörden und viele Menschen in Schweden ein wenig besorgt; es gibt also eine neue politische Situation im Land.“

Natürlich wollen wir die aufnehmen, die jetzt Hilfe brauchen – aber wir wissen: Wenn zu viele Menschen hierherkommen, ist es nicht so einfach, sie zu integrieren. Und genau das haben wir jetzt in unseren Vorstädten gesehen, dass auf die Migration unbedingt die Integration folgen muss – das hat gefehlt. Ich denke also, dass die schwedische Gesellschaft in naher Zukunft einige sehr dringende Fragen zu bewältigen hat.

Wir hoffen auch, dass die Religionen, die Glaubensgemeinschaften in unserem säkularisierten Land mehr Gehör finden werden. Es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass auch die Behörden zu begreifen beginnen, dass man berücksichtigen muss, dass hierher jetzt viele Menschen kommen, die einen tiefen Glauben haben, die religiös sind, und dass sie womöglich einen Mangel an Respekt spüren, wenn sie in dieses säkulare Land kommen. Es gibt viele wichtige Fragen, mit denen wir alle in Schweden in Zukunft fertig werden müssen; aber wir hoffen und beten, dass Schweden weiterhin eine tolerante, offene und gute Gesellschaft für die meisten unserer Bürger sein wird.“

Ukraine-Flüchtlinge und weitere Passagiere kommen per Fähre aus dem polnischen Danzig im schwedischen Nynashamn an
Ukraine-Flüchtlinge und weitere Passagiere kommen per Fähre aus dem polnischen Danzig im schwedischen Nynashamn an

Welche Bedeutung messen Sie den Appellen von Papst Franziskus zum Frieden in der Ukraine und zum Osterfrieden in der Ukraine bei?

„Und ich denke, er ist eine der wenigen Personen in der Welt, die einen gewissen Einfluss auf Patriarch Kyrill haben könnten, der diese Position zugunsten des Krieges eingenommen hat.“

„Natürlich wäre es ein prophetisches Zeichen, wenn der Heilige Vater nach Kiew reisen könnte. Auf der anderen Seite wissen wir, dass Russland sehr verärgert, sehr wütend sein würde. Ich kann also verstehen, dass es für den Heiligen Vater nicht einfach ist, zu entscheiden, wie er handeln, was er tun und was er sagen soll. Aber wir wissen, dass der Papst all jenen, die unter dem Krieg leiden, sehr nahe steht. Und ich denke, er ist eine der wenigen Personen in der Welt, die einen gewissen Einfluss auf Patriarch Kyrill haben könnten, der diese Position zugunsten des Krieges eingenommen hat. Wir beten also für den Heiligen Vater, dass er die Gaben des Heiligen Geistes empfängt, um Versöhnung und Frieden für die Ukraine herbeizuführen.“

Themenwechsel: Sie waren vor knapp einem Jahr als Visitator im Auftrag des Papstes im Erzbistum Köln, um dort den Umgang mit Missbrauchsfällen zu untersuchen. Mittlerweile hat der Vatikan weitere Maßnahmen zum Schutz von Minderjährigen ins Kirchenrecht aufgenommen, und die Päpstliche Kommission für den Schutz von Minderjährigen wurde in das vatikanische Dikasterium für die Glaubenslehre integriert. Wie sehen Sie diese Bemühungen in Sachen Kinderschutz?

„Nun, das ist ein sehr, sehr wichtiger und großer Fragenkomplex. Wir wissen, dass dies für die Kirche in der ganzen Welt eine Zeit der Buße und des Neuanfangs ist. Und natürlich ist uns klar, dass wir überall auf der Welt dieses Problem haben, auch wenn es immer mit der Kultur und dem Kontext der jeweiligen Gesellschaft zusammenhängt. Das bedeutet, dass die Kirche in einigen Ländern viel getan hat, um all diese Fälle zu verhindern und sich um sie zu kümmern und den Opfern die Hilfe und den Respekt zu geben, den sie brauchen – aber in anderen Ländern ist das noch nicht so sehr der Fall.

Ich weiß vom Dikasterium, dass dies vielleicht die größte Herausforderung ist: der Kirche in so vielen Ländern zu helfen, Maßnahmen in dieser Hinsicht zu ergreifen. Das ist ein sehr, sehr weites Feld für das Dikasterium. Natürlich brauchen wir allgemeine Regeln, aber wir müssen auch die Lage in den verschiedenen Teilen der Welt untersuchen, denn wir wissen, dass es in einigen Teilen der Welt immer noch diese Kultur des Schweigens gibt – da wird sogar geleugnet, dass es das Problem gibt! Ich wünsche und hoffe, dass das Dikasterium die Möglichkeit findet, der Kirche weltweit zu helfen, wirklich etwas dagegen zu tun. Auch wenn wir alle wissen, dass dies ein schmerzhafter Prozess ist. Es braucht Zeit… Ich bin hoffnungsvoll, aber ich weiß, dass es für viele Ortskirchen auf der ganzen Welt ein langer und schmerzhafter Prozess sein wird, bis sie mit der Situation fertig werden.“

Arborelius mit der lutherischen Bischöfin von Uppsala, Karin Johannesson
Arborelius mit der lutherischen Bischöfin von Uppsala, Karin Johannesson

Was sind Ihre Wünsche und Gebete für diese Osterzeit?

„Ich denke, wir sollten in dieser Osterzeit die Tugend der Hoffnung fördern. Es ist für die Kirche in einer Zeit des Krieges und der Konflikte und der inneren Probleme so notwendig, diesen tiefen Glauben und die Hoffnung auf den auferstandenen Herrn zu haben. Dass er in seiner Kirche lebendig ist, dass er uns hilft, dass er die Mächte des Bösen besiegt hat. Wir sollten versuchen, den Menschen wirklich zu helfen, die Osterbotschaft neu zu entdecken. Wir brauchen sie mehr denn je…

Ich bin voller Bewunderung für die Ukrainer, die ich getroffen habe. Ich sehe noch immer ihre Gesichter, als sie zur Ostermesse kamen. Viele Gesichter waren traurig, aber am Ende der Messe konnte man sie auch lächeln sehen und erkennen, dass die österliche Freude ihnen etwas bedeutet.

Arborelius (geboren 1949) trat mit zwanzig Jahren vom lutherischen zum katholischen Bekenntnis über. 1998 wurde er der erste aus Schweden stammende Bischof von Stockholm seit den Tagen der Reformation. Papst Franziskus nahm ihn 2017 ins Kardinalskollegium auf.

(vatican news – sk)
 

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21. April 2022, 11:31