Suche

Ein Kämpfer der Rebellen sitzt im Nordwesten Syriens an einer Befestigungsanlage Ein Kämpfer der Rebellen sitzt im Nordwesten Syriens an einer Befestigungsanlage 

Nuntius in Syrien: „Wir sind in Vergessenheit geraten“

Am 15. März 2011 begann der Krieg in Syrien. Ein Konflikt, der bislang eine halbe Million Tote gefordert hat und für den nach wie vor kein Ende in Sicht ist. Der Nuntius in Damaskus, Kardinal Mario Zenari, prangert im Interview mit Radio Vatikan/Vatican News Gewalt, Armut und Vernachlässigung an und fordert: „Lasst die Hoffnung nicht sterben“.

Massimiliano Menichetti und Christine Seuss - Vatikanstadt

Zerstörte Häuser, Mangel an Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten, Gewalt, Plünderungen, Menschen auf der Flucht. In Syrien ist der Konflikt nach elf Jahren immer noch nicht vorbei, doch wird über diesen Krieg kaum noch gesprochen, wie über viele andere. Dieses Land, in dem viele Städte nur noch Trümmerhaufen sind, hat eine halbe Million Tote zu beklagen und zählt mehr als 11,5 Millionen Binnen- und Außenvertriebene. An diesem Dienstag, trauriger Jahrestag des Kriegsausbruchs, beginnt in Damaskus eine Konferenz mit dem Titel: „Kirche, Haus der Nächstenliebe - Synodalität und Koordination“, die von der Ostkirchenkongregation gemeinsam mit der Apostlischen Nuntiatur organisiert wird. Ziel der Veranstaltung ist es, die karitativen Aktivitäten der Kirche in Syrien zu koordinieren. Wie Nuntius Zenari beklagt, gerate das Land nach elf Jahren Krieg „aus dem Blickfeld der Medien“ und damit in eine Art „Vergessenheit“.

„Es ist ein trauriger Jahrestag“

„Es ist ein trauriger Jahrestag, zum einen, weil der Krieg noch nicht vorbei ist, und zum anderen, weil Syrien seit ein paar Jahren aus dem Medienradar verschwunden zu sein scheint“, meint Zenari, den Papst Franziskus in einer ungewöhnlichen Geste 2016 ins Kardinalskollegium aufgenommen hatte. Die Libanon-Krise, Covid-19 und jetzt der Krieg in der Ukraine hätten den nach wie vor andauernden Krieg in Syrien aus den Medien verdrängt, beklagt der Nuntius, der seit 2008 in Syrien stationiert ist und das Land in all den Konflikt-Jahren nie im Stich gelassen hat.

„Eine Nation ohne junge Menschen, und noch dazu ohne qualifizierte, ist eine Nation ohne Zukunft“

„Leider ist die Hoffnung aus den Herzen so vieler Menschen verschwunden, insbesondere aus den Herzen der jungen Menschen, die keine Zukunft in ihrem Land sehen und auswandern wollen. Eine Nation ohne junge Menschen, und noch dazu ohne qualifizierte, ist eine Nation ohne Zukunft“, gibt der Kardinal zu bedenken. Einige Familien hätten hohe Geldbeträge an Schlepper bezahlt und säßen nun in Weißrussland fest, in Erwartung darauf, die polnische Grenze zu passieren. Für den Vatikandiplomaten stellt die „syrische Katastrophe“ die „schwerste von Menschen verursachte humanitäre Katastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ dar, wie er gegenüber Vatican News betont. Es gebe immer keine Anzeichen für einen Wiederaufbau oder eine wirtschaftliche Erholung. „Hinzu kommt, dass die Sanktionen einen großen Einfluss auf all das haben. Der Friedensprozess, wie er in der UN-Resolution 2254 vorgesehen ist, ist zum Stillstand gekommen. Nur die Armut schreitet sprunghaft voran. Man spricht jetzt von Wirtschaftskrieg.“

Papst Franziskus und Kardinal Zenari auf einem Archivfoto
Papst Franziskus und Kardinal Zenari auf einem Archivfoto

Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung sind derzeit von Ernährungsunsicherheit betroffen, eine Situation, die sich durch den Krieg in der Ukraine und den dadurch steigenden Getreidepreisen noch deutlich verschlimmern könnte. Um gegenzusteuern, findet dieser Tage in Damaskus eine von der katholischen Kirche einberufene Konferenz statt, zu der etwa 250 Teilnehmer erwartet werden. Dazu werden Vertreter katholischer Einrichtungen und humanitärer Organisationen aus dem In- und Ausland erwartet, wie zum Beispiel Kardinal Leonardo Sandri, Präfekt der Kongregation für die Orientalischen Kirchen, sowie einige Mitglieder römischer Dikasterien und ROACO. Handeln scheint jedenfalls dringend nötig, denn unterdessen geht der Aderlass an Christen weiter…

„Mit jeder christlichen Familie, die auswandert, schließt sich das Fenster etwas mehr“

„In diesen Jahren des Krieges haben mehr als die Hälfte, vielleicht sogar zwei Drittel der Christen Syrien verlassen“, betont Kardinal Zenari. „In diesen Konflikten sind die Minderheitengruppen das schwächste Glied in der Kette. Dies ist eine nicht wiedergutzumachende Wunde für diese orientalischen Kirchen sui iuris, aber es ist auch ein schwerer Schaden für die syrische Gesellschaft selbst. Die Christen, die seit zweitausend Jahren im Nahen Osten ansässig sind, haben einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung ihres Landes geleistet, insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheit, mit sehr effizienten und angesehenen Schulen und Krankenhäusern. Für die syrische Gesellschaft könnte man die Anwesenheit der Christen mit einem offenen Fenster zur Welt vergleichen. Christen sind im Allgemeinen aufgeschlossen und tolerant. Mit jeder christlichen Familie, die auswandert, schließt sich das Fenster etwas mehr.“

Syrische Flüchtlinge im Libanon
Syrische Flüchtlinge im Libanon

Wie auch der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, immer wieder betonte, müsse die internationale Diplomatie für eine Lösung des Konfliktes stärker einbezogen werden. Doch der anhaltende Konflikt, die Covid-19-Pandemie und andere Konflikte, insbesondere der Krieg in der Ukraine, hätten die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf andere Bereiche gelenkt, beklagt der Nuntius: „Bis vor einigen Jahren erhielt ich Anrufe aus verschiedenen Teilen der Welt mit der Bitte um Interviews und Informationen über den Syrienkonflikt. Jetzt klingelt das Telefon nicht mehr. Dies ist ein weiteres großes Unglück, das Syrien widerfahren ist. Die Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Dieses Vergessenwerden schmerzt die Menschen sehr.“

„Jetzt klingelt das Telefon nicht mehr“

Ein Schmerz, der weitere Gefahren birgt: Berichten zufolge sollen Syrer in die Ukraine ausgereist sein, um dort auf russischen Befehl zu kämpfen. Eine Kriegssituation, die in eine Endlosspirale zu geraten scheint… „Ich habe diese Berichte auch gelesen“, bestätigt Nuntius Zenari. „Etwas Ähnliches geschah vor einigen Jahren in Libyen: Syrische Söldner kämpften auf der jeweils anderen Seite. Dies ist eine weitere Krankheit, die durch den Krieg verursacht wird, der eine Fabrik ist, die alle möglichen Übel hervorbringt: Opfer, Zerstörung von Stadtvierteln und Dörfern, Flüchtlinge, Zerstörung des sozialen Gefüges, Zerrüttung der Familie, Gewalt, Armut, Arbeitslosigkeit, Drogen und zahlreiche andere Übel. Viele junge Menschen sind arbeitslos, haben aber gelernt, mit Waffen umzugehen und melden sich für ein paar hundert Dollar.“

„Ich schließe mich der wiederholten und nachdrücklichen Mahnung von Papst Franziskus an, die Waffen zum Schweigen zu bringen und das Gemetzel zu beenden“

Doch für einen großen Aufschrei sei die Angst im Land zu groß, auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine werde deshalb nicht öffentlich kommentiert, erläutert der Kardinal, der sich die Appelle des Papstes zu eigen macht: „Ich schließe mich der wiederholten und nachdrücklichen Mahnung von Papst Franziskus an, die Waffen zum Schweigen zu bringen und das Gemetzel zu beenden. Mir scheint, dass auch das gepeinigte Syrien diesen dringenden Appell aus Erfahrung gut versteht. Wenn ich das Gleichnis vom armen Lazarus und dem reichen Epulon aus dem Evangelium heranziehen darf, so will Syrien doch, mutatis mutandis, die anderen eindringlich davor warnen, in die gleiche Qual zu geraten, in die es selbst geraten ist (Lk 16,27-28). Es ist traurig, dass sich in der Ukraine die gleichen erschütternden Bilder des Leids wie in Syrien wiederholen: zerstörte Stadtviertel, Tote, Millionen von Flüchtlingen, der Einsatz unkonventioneller Waffen wie Streubomben, die Bombardierung von Krankenhäusern und Schulen. Wir sehen genau den gleichen Abstieg in die Hölle wie in Syrien.“

Mit Blick auf die aktuelle Fastenzeit könne man sagen, dass eine seit elf Jahren andauernde, ununterbrochene Fastenzeit die Menschen aller Konfessionen verbinde, schließt Kardinal Zenari seine Ausführungen bedrückt: „Es ist vor allem wichtig, dass wir uns nahe stehen und solidarisch sind.“

(vatican news)

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

15. März 2022, 10:20