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Dieses Foto wurde am 10. Oktober 2020 aufgenommen und zeigt den pensionierten Polizisten Genadiy Avanesyan (73), der in den Überresten seines Hauses in der Stadt Stepanakert nach Habseligkeiten sucht. Dieses Foto wurde am 10. Oktober 2020 aufgenommen und zeigt den pensionierten Polizisten Genadiy Avanesyan (73), der in den Überresten seines Hauses in der Stadt Stepanakert nach Habseligkeiten sucht. 

Bergkarabach: Der vergessene Konflikt

Derzeit schaut die Welt mit Spannung auf die Krise in Kasachstan. Doch auch auf der anderen Seite des Kaspischen Meeres kam es vor nicht langer Zeit zu einem heute fast vergessenen Konflikt: Nur wenige Wochen dauerte der Krieg um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020. Die Folgen sind auch eineinhalb Jahre später immer noch dramatisch.

Das Hilfswerk „Kirche in Not“ hat die Menschen besucht und bietet Unterstützung. Unsere Kollegen vom Kölner Domradio haben dazu mit Tobias Lehner von dem katholischen Hilfswerk gesprochen, das in ganz Osteuropa und Westasien aktiv ist.

Hier das Interview mit Tobias Lehner von Kirche in Not

DOMRADIO.DE: Bergkarabach, die zwischen Armenien und Aserbaidschan umkämpfte Region, liegt zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Georgien, die Türkei und der Iran grenzen an die Region. Geht es um das Gebiet, die Religion oder um beides?

Tobias Lehner (Kirche in Not): Vordergründig geht es natürlich um Gebiete. Das Gebiet Bergkarabach ist doppelt so groß wie das Saarland. Vor dem Krieg hatte es etwa 450.000 Einwohner, 99 Prozent Armenier, befehdet seit über 100 Jahren zwischen Aserbaidschan und Armenien. In der Zeit der Sowjetunion wurde das mühsam unter dem Deckel gehalten. Dieser Konflikt ist wieder aufgebrochen in den 90er Jahren. Der Krieg damals wurde eingefroren. Wie lange das gedauert hat, hat man im Herbst 2020 sehen können, als dieser Krieg wieder ausgebrochen ist, mit voller Wucht.

„Es geht um nationale Konflikte, um ethnische Konflikte. Und ja, es gibt da auch eine religiöse Trennlinie.“

Es geht um die Region, es geht um nationale Konflikte, um ethnische Konflikte. Und ja, es gibt da auch eine religiöse Trennlinie. 95 Prozent der Armenier sind Christen, 95 Prozent der Menschen in Aserbaidschan sind Muslime. Es gab Berichte, wonach in diesem jüngsten Krieg auch islamistische Söldner aus Syrien und aus Libyen eingeschleust worden sind und schreckliche Menschenrechtsverbrechen begangen haben.

Dieses kleine Gebiet Bergkarabach ist ein Spielball großer Nationen. Die Türkei auf der Seite Aserbaidschans, Russland auf der Seite Armeniens. Da geht es natürlich auch um Bodenschätze, um die Erdgas- und Erdöl-Pipelines, die da lang laufen. Es geht um den Einfluss in einer Region - also eine insgesamt sehr, sehr angespannte Lage.

Bergkarabach
Bergkarabach

DOMRADIO.DE: Beim Thema Flüchtlinge denken wir an Lesbos, Jemen, Belarus. Gibt es in Bergkarabach eine ähnliche Situation?

Lehner: Ich denke, diese Flüchtlingsbewegung läuft unsichtbarer, aber nicht weniger dramatisch. Der Krieg im Herbst 2020 hat ja nur ein paar Wochen gedauert, aber war sehr verheerend. 90.000 Armenier wurden vertrieben, abtransportiert. Die sind in Armenien zuerst mal bei Verwandten untergekommen. Das ging natürlich nur eine gewisse Zeit. Nun standen diese Menschen buchstäblich auf der Straße, haben sich Behausungen, Unterkünfte gesucht, oft in Industriebaracken aus der Sowjetzeit. Sie leben dort ohne Strom, Wasser, Heizung.

Manche Familienväter sind nach Russland gegangen, um dort Arbeit zu finden. Frauen und Kinder verbleiben in Armenien. Die wollen natürlich irgendwann zurück. Doch die Sicherheitslage auch in diesem von Russland kontrollierten Korridor, den es da in Bergkarabach gibt, ist einfach zu unsicher. Insgesamt eine humanitäre Katastrophe, könnte man sagen, an der Türschwelle Europas.

DOMRADIO.DE: Jetzt sind einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihres weltweiten päpstlichen Hilfswerks „Kirche in Not“ gerade vor Ort gewesen, um sich ein Bild zu machen von der Situation. Sie haben dort auch mit mehreren Flüchtlingsfamilien gesprochen. Der Anlass war auch, dass jetzt das orthodoxe Weihnachtsfest ist. Was berichten die Kolleginnen und Kollegen, die zurückgekommen sind?

Lehner: 90.000 Armenier aus Bergkarabach wurden vertrieben. Davon sind nur etwa ein Viertel, etwas mehr als ein Viertel, bislang zurückgekehrt. Die übrigen, die hausen - sie wohnen nicht - in aufgelassenen Häusern. Unsere Kolleginnen und Kollegen haben berichtet, sie haben Familien getroffen, da konnte man im Erdgeschoss bis in den Dachstuhl gucken, weil riesige Löcher in der Zimmerdecke klafften.

„Die Menschen können nicht zurück, weil ihre alten Häuser längst von neuen Familien bewohnt werden.“

Ohne Strom, ohne Wasser, ohne Heizung, natürlich auch ohne Arbeit. Viele, die aus dem Krieg zurückgekehrt sind, sind schwer traumatisiert, sind verletzt an Leib und Seele. All das wirkt natürlich noch nach. Oft können sie nicht zurück. Aserbaidschan ist ja als nomineller Sieger aus diesem jüngsten Konflikt hervorgegangen, viele Gebiete sind wieder besetzt. Die Menschen können nicht zurück, weil ihre alten Häuser längst von neuen Familien bewohnt werden. Das ist wirklich eine insgesamt sehr, sehr angespannte Situation. Es haben sich auch Hilfsorganisationen aus dem Ausland zurückgezogen, sei es aus Sicherheitsgründen oder weil es andere Konflikte gab. Und da versuchen wir jetzt sozusagen auch, ein bisschen in diese Lücke zu springen.

DOMRADIO.DE: Gerade ist Weihnachten für die orthodoxen Christen. Wie hilft „Kirche in Not“, dieses Fest zu einem hoffnungsvollen und frohen zu machen?

Lehner: Wir haben ein Nothilfe-Paket für 15 Monate gestartet, um 150 vertriebene Familien, die sich im Südosten von Armenien aufhalten, versorgen zu können. Wir arbeiten dort mit der Caritas Armenien zusammen. Diese Versorgung umfasst Hilfen bei der Wohnungssuche, die seelsorgerische und psychologische Betreuung von Traumatisierten, Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, Lebensmittel, Medikamenten-Hilfe. Auch der Einbau zum Beispiel von Heizungen in solchen Flüchtlingsunterkünften oder wo auch immer die Menschen jetzt untergekommen sind.

Das ist jetzt erst mal für 15 Monate gesichert. Wir hoffen natürlich auch auf viel Unterstützung dafür, auch aus Deutschland. Und es kann natürlich auch erst der Anfang sein, weil diese Vertriebenen-Situation sehr, sehr angespannt bleibt. Wir hoffen, dass dann nicht nur Weihnachten hoffnungsvoll ist, sondern dass es auch noch wirklich in eine gute Zukunft für die Menschen in dieser Region gehen kann.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

(domradio – mg)

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07. Januar 2022, 10:35