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Ein Mann verkauft Weihnachtsartikel in Port-au-Prince Ein Mann verkauft Weihnachtsartikel in Port-au-Prince 

Haiti am Abgrund: „Elend gebiert Gewalt“

Morde, Guerilla-Aktionen, Entführungen und Gewalt stehen in Haiti zunehmend auf der Tagesordnung. Dies wirkte sich auch auf die Weihnachtsfeiern aus: viele Kirchen blieben halb leer und zahlreiche öffentliche Feiern fielen aus.

Christine Seuss und Federico Piana - Vatikanstadt

Die Explosion eines Tanklasters vor zwei Wochen warf ein Schlaglicht auf die verzweifelte Situation, in der sich Haiti derzeit befindet: Zahlreiche Menschen hatten das Fahrzeug angegriffen in der Hoffnung, ein wenig Benzin entwenden und auf dem Schwarzmarkt verkaufen zu können, um damit zumindest für ein paar Tage das Auskommen der Familien zu sichern. Doch der Metallaufsatz des Lasters hielt den Hammerschlägen nicht stand und explodierte, mindestens 80 Menschen wurden dabei in den Tod gerissen. Die Tragödie ereignete sich vor zwei Wochen in Cap-Haïtien, der zweitgrößten Stadt des Karibikstaates, und ist zum Symbol für eine Nation am Rande des Abgrunds geworden.

„Diese Nachricht ist um die Welt gegangen, aber niemand hat den Blick auf das wahre Drama gelenkt: die vielen hungernden Menschen, die, um zu überleben, versuchen, mit einem Hammer etwas Treibstoff zu plündern und dabei ihr Leben riskieren“, beklagt Schwester Marcella Catozza im Interview mit Radio Vatikan. Es war nicht einfach, mit der Ordensfrau in Kontakt zu treten. Telefonverbindungen sind fast unmöglich, und auch das Internet funktioniert nur dann, wenn der Strom nicht wieder einmal ausfällt. „Wasser und Gas fehlen oft wochenlang. Wir können nicht einmal das Wenige, das wir haben, kochen. Gar nicht erst zu reden von den Schulen, die oft wochenlang geschlossen sind. So wird Armut und Unwissen geschaffen. Vielleicht stecken auch wirtschaftliche Interessen dahinter“, erklärt die italienische Franziskanerin mit Blick auf die reichen Bodenschätze Haitis.

Ein Mann bringt Sachen aus einem Haus, das bei der Explosion beschädigt wurde
Ein Mann bringt Sachen aus einem Haus, das bei der Explosion beschädigt wurde

Engel im Elendsviertel

Die Missionarin wirkt in einem Elendsviertel der Hauptstadt Port-au-Prince. Dort betreibt ihre Gemeinschaft ein Waisenhaus mit 150 Kindern bis zu 14 Jahren, darunter 30 mehrfach behinderte Jungen und Mädchen, und einen Kindergarten mit über 500 Schülern. Der Ort, der zwischen dem Meer und der Stadt liegt, könnte sogar als malerisch bezeichnet werden, wenn er nicht im Herzen von Waf Jeremie liegen würde, dem größten, ärmsten und berüchtigtsten Slum der Hauptstadt Port-au-Prince. „Waf Jeremie“, sagt uns die Ordensfrau, „hat etwa 100.000 Einwohner und ist ein Elendsviertel, das auf einer städtischen Müllhalde errichtet wurde. Vor zwanzig Jahren bat der damalige Bischof unsere Gemeinschaft, uns um die ,Menschen auf der Müllkippe‘ zu kümmern, und wir sind dem Appell gefolgt“.

Zunehmende Gewalt

In der Barackensiedlung hat Schwester Marcella Catozza nicht nur mit extremer Armut zu kämpfen, sondern auch mit der so genannten Befreiungsarmee, die dort ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. „Das sind die Milizionäre, die die Menschen seit langem terrorisieren und in den Straßen auf sie schießen. Deswegen kommt auch der Wagen, der Trinkwasser liefert, nicht mehr. Eine Woche lang hatten wir deswegen kein Wasser. Die Gewalt im ganzen Land war noch nie so übel wie in den letzten Monaten. Sie hat dramatisch zugenommen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es betrifft nicht mehr nur bestimmte Personengruppen. Die Gewalt berührt jetzt jeden, betrifft alle.“

Banden und Entführungen

Denn die Banden, die für Morde und Entführungen verantwortlich zeichnen, schrecken vor nichts zurück. Auf offener Straße werden Menschen angehalten, um ihnen das Auto oder Motorrad abzunehmen, doch auch ein kleines Handy reicht aus, um ins Visier der Verbrecher zu geraten. Wer reagiert, riskiert sein Leben. Rund 150 Menschen wurden in einem einzigen Monat entführt, einige von ihnen konnten sich befreien, einige kehrten nicht mehr nach Hause zurück, berichtet die Ordensfrau. Mit dem Lösegeld finanzieren sich die bewaffneten Banden, die auf der ganzen Insel Territorien besetzt halten. Am 24. Dezember wurde auch eine Erzieherin, die mit Schwester Catozza zusammenarbeitet, in einer Blitzaktion entführt: „Bis zum späten Abend wussten wir nichts von ihr, dann haben sie sie freigelassen, aber sie hatten sie komplett ausgeraubt. Sie haben ihr alles abgenommen, auch die Kleider, sie mit nichts zurückgelassen und gedemütigt“, erklärt die Missionarin.

Demonstranten setzten in Port-au-Prince vor dem Innenministerium am 24. Dezember Reifen in Brand
Demonstranten setzten in Port-au-Prince vor dem Innenministerium am 24. Dezember Reifen in Brand

Weihnachten auf Sparflamme

Die Menschen in Haiti haben jetzt Angst, auf die Straße zu gehen, und diese gedrückte Stimmung habe sich auch auf die Feier im Waisenhaus gelegt, berichtet Schwester Catozza. „Es fehlt einfach die Energie…“, meint sie lakonisch. Auch wenn Weihnachten das Fest der Hoffnung sei, das alle Ängste wegfege. „Aber dann zu sagen, organisieren wir eine Feier wie jedes Jahr, mit Grillabend und alle zusammen, der Weihnachtsmann, der kommt und Geschenke verteilt, kleine Aufführungen… All diese Sachen gab es dieses Jahr nicht, auch in Gedenken an die dramatische Situation, die die Menschen hier momentan erleben. Sie haben nichts zu essen, kein Trinkwasser…“

Ein Slum in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince (Archivbild)
Ein Slum in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince (Archivbild)

Zu Weihnachten waren auch die Kirchen halbleer, nur wenige Dekorationen waren in den Straßen zu sehen und viele religiöse und gesellschaftliche Feste fielen aus. Selbst in der Barackensiedlung, in der Schwester Catozza mit ihren Waisenkindern lebt, konnte die Heiligabendmesse nicht gefeiert werden: „Nicht nur das. Außerdem mussten wir auf das Treffen mit dem neuen Apostolischen Nuntius, Francisco Escalante Molina, verzichten, der unsere Kinder am Morgen des 24. Dezember besuchen und für sie die Eucharistie feiern sollte.“ Diese Situation hat die haitianische Bischofskonferenz veranlasst, in ihrer Weihnachtsbotschaft an die ganze Welt zu appellieren, „einem Land zu Hilfe zu kommen, das in ein politisches, wirtschaftliches und soziales Chaos gestürzt wurde, insbesondere nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moise im Juli“.

„Elend gebiert Gewalt“

Nach Ansicht von Schwester Catozza hat die Gewalt in Haiti einen klaren Ursprung: die extreme Armut der Bevölkerung. Mit lauter Stimme meint die Ordensfrau: „Seit 40 Jahren lebt das Land in dieser Situation, in extremer Misere, und niemand, wirklich niemand hat dagegen etwas getan. Elend gebiert die Gewalt. Denn der einzige Weg, um dem Elend zu entkommen, ist Gewalt. Du stirbst vor Hunger? Dann nimmst du halt einem anderen das Essen weg, das du brauchst. Du brauchst Geld? Dann tötest du jemanden, um welches zu bekommen. Die Gewalt löst einen Teufelskreis aus, wie wir ihn heute in Haiti sehen.“

„Als gäbe es keine Grenzen“

Es scheine, als würde es für die Gewalt und die Gewalttäter keine Grenzen geben, meint Schwester Catozza. Denn die bewaffneten Banden, die teils im Dienst der politischen Parteien gestanden seien, hätten nun offensichtlich beschlossen, die Macht nicht mehr teilen zu wollen. Etwas fassungslos berichtet die Ordensfrau von einem bekannten Bandenchef, der zu Weihnachten ein Rap-Video veröffentlicht hatte, in dem er über die Ungerechtigkeit im Land singt. „Derselbe, der am Tag zuvor Menschen umgebracht hat. Als gäbe es keine Grenzen. Heute sage ich dir etwas mit Gesang, und morgen sage ich es mit einer Waffe in der Hand.“

Doch in den Zeitungen lese man praktisch nichts von Gewalt und Entführungen, vielmehr gehe es in den Medien um friedliche Geschichten des täglichen Lebens, so als ob alles in Ordnung wäre, weist die Missionarin auf die Kluft zwischen Realität und Informationen hin. „Wer ist es, der hier alles entscheidet? Warum konnten wir uns im Dezember halbwegs bewegen? Weil die ,Befreiungsarmee‘ für den Dezember einen Waffenstillstand ausgerufen hat. Also konnten wir auf die Straße gehen. Aber wir wissen nicht, wie es im Januar sein wird. Hier eingeschlossen, mit dem Wasser, das nach einer Woche ausgeht, mit dem Gas, das ausgeht, und man kann nicht rausgehen, um welches zu kaufen. Mit den Kindern, die nichts zu essen bekommen. Mit den Menschen, die hier arbeiten und nicht die Schichten wechseln können, und eine Woche hier verbringen müssen, mit der Ablöse, die nicht kommen kann – ein menschliches Desaster. “

(vatican news - cs)

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31. Dezember 2021, 14:42