Blick über Santiago (Foto: Kempis) Blick über Santiago (Foto: Kempis) 

Chile: Wahlen in turbulenten Zeiten

In Chile stehen am Sonntag Präsidentenwahlen an. Zwei polarisierende Kandidaten haben gute Aussichten auf die Nachfolge von Sebastian Pinera. Eines der drängenden Probleme im Land ist der Konflikt mit den indigenen Mapuche.

Fast 15 Millionen Chilenen sollen am Sonntag für die nächsten vier Jahre Parlament und Präsident wählen. International im Fokus steht vor allem der Kampf um die Nachfolge des wirtschaftsnahen Regierungschefs Sebastian Pinera (71). Dessen Beliebtheitswerte sind stark gesunken, seit er auf die im Oktober 2019 begonnenen Sozialproteste mit Polizeigewalt reagierte. Hinzu kommen innenpolitische Skandale, die seine Glaubwürdigkeit erschütterten. Eine weitere Amtszeit ist laut Verfassung nicht möglich.

In den Umfragen liegt der 35-jährige Linkspolitiker Gabriel Boric vorn, einer der führenden Köpfe der Studentenbewegung. Er steht an der Spitze des kommunistisch-sozialistischen Bündnisses Apruebo Dignidad. Dem Kandidaten Jose Antonio Kast (55) von der rechtsnationalistischen Partido Republicano werden ebenfalls gute Chancen auf die Stichwahl eingeräumt, wenn keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen erreicht. Der Katholik Kast stützt sich unter anderem auf eine stetig wachsende Zahl evangelikaler Christen im Land; rund 18 Prozent der Bevölkerung machen sie laut jüngsten Statistiken aus.

Obdachloser in Santiago (Foto: Kempis)
Obdachloser in Santiago (Foto: Kempis)

Sozialproteste und Arbeiten an neuer Verfassung

Zuletzt waren die Zeiten in Chile turbulent. Die Sozialproteste 2019 mündeten in ein Referendum, das den Auftrag zu einer neuen Verfassung erteilte, die die in Teilen noch aus den Zeiten der Militärdiktatur (1973-1990) stammende ablösen soll. Die Präsidentin des Verfassungskonvents, Elisa Loncon, sagte zu Beginn: „Wir müssen hart arbeiten, um Chiles Narben zu heilen“. Es brauche dazu auch gegenseitiges Wohlwollen und Fantasie, so die Politikerin der indigenen Minderheit der Mapuche. Mit ihrer Wahl hatte der Konvent aus 155 gewählten Mitgliedern im Juli seine Arbeit aufgenommen.

Loncon kündigte an, sich für ein multikulturelles und multiethnisches Land einzusetzen. Doch bislang ist in der „Schweiz Südamerikas“ das neoliberale Modell gesetzt - quer durch alle etablierten Parteien. Das liegt wohl auch daran, dass sich fast ausschließlich Politik und Wirtschaft gegenseitig befruchten: Unternehmer wechseln in die Politik, Politiker in die Wirtschaft. Es fehlen alternative Ideen und Modelle, sozial- und geisteswissenschaftliche Impulse.

Auch auf der Agenda der vorigen, sozialdemokratischen Präsidentin (2014-2018) und derzeitigen UNO-Menschenrechtshochkommissarin Michelle Bachelet hatten zwar soziale Gerechtigkeit und kostenfreie Hochschulbildung gestanden. Doch die Nach-Diktatur-Verfassung mit lediglich einer Legislaturperiode von vier Jahren begünstigt grundlegende Reformen nicht. Auch Bachelet konnte in Chiles durch und durch marktliberaler Volkswirtschaft nur einige wenige gesetzliche Grundlinien von Solidarität einziehen, etwa beim Arbeitsschutz oder der Bildung von Gewerkschaften. Am elitären neoliberalen Comment rührte sie nicht grundlegend.

Straßenmusikanten in Santiago (Foto: Kempis)
Straßenmusikanten in Santiago (Foto: Kempis)

Mapuche fühlen sich unterdrückt

Und so bleibt auch ein weiteres Grundübel bestehen, gesetzlich etabliert noch am letzten Tag der Pinochet-Diktatur: der Verkauf höherer Bildung nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung. Tatsächlich sind laut einer OECD-Studie die Kosten, ein Kind studieren zu lassen, in Chile relativ gesehen immens hoch. Sehr viele Absolventen gehen mit Zehntausenden Euro Schulden ins Berufsleben.

Zu den drängendsten Problemen gehören neben der Corona-Krise auch die Rechte der Mapuche. Die ethnische Minderheit sieht sich vom Staat unterdrückt. „Auch der Ausrufung des Notstands am 12. Oktober 2021 gab es in den Mapuche-Gebieten La Araucania und Biobio immer wieder Tote und Verletzte bei Auseinandersetzungen zwischen Mapuche und Sicherheitskräften“, berichtet Yvonne Bangert, Referentin der Gesellschaft für bedrohte Völker. „Aus menschenrechtlicher Sicht und für politisch aktive Mapuche war klar, dass die Ausrufung des Notstands und die Entsendung der militarisierten Polizei Zündstoff für den Konflikt und kein Mittel zu seiner Beilegung bedeuten würden“, so Bangert. Eine große Chance auf Verständigung und Gleichberechtigung in der chilenischen Gesellschaft werde so verspielt.

Erzbischof Aos
Erzbischof Aos

Der Verfassungsgebende Prozess unter Vorsitz der Mapuche Elisa Loncon hatte noch große Hoffnungen geweckt. Inzwischen wächst allerdings auch Kritik an der Mapuche-Bewegung, deren radikaler Flügel seinerseits Gewalt anwendet. Zuletzt gab es immer wieder Brandanschläge.

Der Erzbischof von Santiago, Kardinal Celestino Aos Braco, rief zuletzt zum Aufbau einer gerechteren, solidarischen Gesellschaft sowie zu einem ökologischen Umdenken auf. „Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend darauf reagieren“, forderte er. Die Kirche hat zudem die Jugend des Landes ermuntert, mit den Präsidentenwahlen Einfluss auf die künftige politische Richtung zu nehmen. Es sei Zeit, sich einzubringen und Verantwortung für den Bau der Zukunft zu übernehmen, so Santiagos Weihbischof Cristian Roncagliolo.

(kna-korrespondentenbericht – sk)
 

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20. November 2021, 11:09