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Ewa Kusz, Vize-Präsidentin des Kinderschutzzentrums der Accademia Ignaziana in Krakau Ewa Kusz, Vize-Präsidentin des Kinderschutzzentrums der Accademia Ignaziana in Krakau 

Die Stimme der Missbrauchsopfer

Ewa Kusz, Mitglied des Organisationskomitees für das Regionaltreffen zum Schutz Minderjähriger für Mittel- und Osteuropa in Warschau, sammelt die Stimmen von Menschen, die von Priestern missbraucht wurden.

Ewa Kusz

Was sagen, was erwarten sich die Menschen, die in der Kirche verletzt wurden, von der Kirche, von den »Kirchenvertretern«?

Es ist schwer, darauf zu antworten, denn jedes Missbrauchsopfer ist anders, hat eine andere Lebensgeschichte, sei dies nun vor oder nach dem Trauma. Einige sprechen sofort, andere nach ein paar Jahren oder auch erst viele Jahre später. Einige sind auf ihrem Weg Menschen begegnet, die ihnen geholfen haben, andere sind mit ihrem Leiden völlig alleingelassen worden.

Die Geschädigten sprechen: einige fordern mit lauter Stimme das Rederecht, das Recht, gehört zu werden, andere sprechen voller Scham in der Stille der Praxis eines Psychotherapeuten oder vertrauen sich nur ihren Lieben an. Einige schreien, andere sprechen stumm, durch ihr Schweigen.

Der Text, den ich hier vorlege, ist ein Versuch, die Stimmen der Menschen zu sammeln, die ich begleitet und gefragt habe, was sie sich seitens der Kirche erwarten.

Erstens: Anerkennen, dass es sie gibt.

Das erste Bedürfnis eines verletzten Menschen besteht schlichtweg darin, in seinem Wesen anerkannt und akzeptiert zu werden, und er hat das Recht zu existieren, mit all seinem Leid, seinem Schmerz, seinen Wunden.

Der Priester als Vertreter der Kirche, der sich nicht selten als »Vertreter Gottes« präsentiert hat, hat seine Opfer als Objekte betrachtet, die er benutzen und missbrauchen konnte, und hat dadurch ihre Menschenwürde zerstört. Mehr als einmal hat er seine Handlungen aber mit religiösen Gründen gerechtfertigt oder behauptet, das sei der Wille Gottes. Die physische, aber auch psychische Gewalt, die auf diese Art zugefügt wurde, hat das Fundament getroffen, auf dem das Leben dieses Menschen basierte, indem sie seine Würde als »Kind Gottes« zerstört hat, in seinen Missbrauchsopfern die Erfahrung vom Gott der Liebe zunichte gemacht hat und in ihnen die Erfahrung von Kirche als Gemeinschaft zerstört hat, denn es ist gerade da geschehen, dass sich die Gewalt materialisiert hat, ohne dass irgendjemand sie verhindert oder darauf reagiert hätte. Die Opfer erwarten also, dass die Kirche, in der der Missbrauch erfolgte, den Missbrauch nicht als eine Sünde, die von einem Sünder begangen wurde, dem vergeben werden muss, sondern als ein kriminelles Vergehen einstuft, dem die Geschädigten zum Opfer gefallen sind.

Die Missbrauchsopfer erwarten vor allem, in ihrem Schmerz, in ihrer Wut, in ihrer Ohnmacht angehört zu werden. Mitunter schämen sie sich und stellen sich unablässig die Frage, ob es nicht etwa sie selbst seien, die schuld daran seien. Und manchmal bringen sie ihre Anschuldigungen auf aggressive Art und Weise vor. Wenn sie sich dazu entschließen, sich zu melden, dann erwarten sie, aufmerksam und prompt gehört zu werden, als MENSCHEN, die über eine Wunde sprechen, die keineswegs nur ihnen, sondern der gesamten kirchlichen Gemeinschaft geschlagen wurde. Sie wollen nicht wie lästige Quälgeister behandelt werden, die den »heiligen Frieden« stören, als Eindringlinge oder gar als Menschen, die gegen die Kirche vorgehen. Diese verletzten Menschen erwarten, nicht nur »korrekt« und allen formalen Regeln gemäß empfangen zu werden, insofern sie dann, wenn sie kommen, in die Kirche im Sinne von Gemeinschaft kommen, und nicht im Sinne einer korrekt funktionierenden kirchlichen Institution. Die Opfer wollen das Recht haben, im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihren Schmerz und ihr mitunter jahrelang geheim gehaltenes Leid zum Ausdruck zu bringen. Sie wollen keine Anweisungen, sondern sie wollen willkommen geheißen werden.

Die Opfer warten auf Gerechtigkeit: sie wollen, dass ganz klar gesagt wird, wer den Missbrauch begangen hat und wer missbraucht wurde. Und sie wollen, dass dies auch von denen gehört wird, die den beschuldigten Priester, ihren Missbrauchstäter, verteidigen und dabei nicht gerade selten den Opfern die Schuld in die Schuhe schieben, weil ihnen niemand die Wahrheit gesagt hat, weil entschieden wurde, Stillschweigen zu wahren, manchmal aus einem Gefühl der Ohnmacht, manchmal aus einem falsch verstandenen Wunsch heraus, die Kirche zu »verteidigen«, als könne die Wahrheit über das kriminelle Vergehen, über den zugefügten Schaden, den »Glauben der Kleinen« unterminieren. Die Verletzten erwarten sich eine gerechte Bestrafung dessen, der sie missbraucht hat, damit das für ihn zur Gelegenheit werde, sich zu ändern, umzukehren. Die Opfer wollen die SUBJEKTE des Kirchenprozesses sein, dem der Missbrauchstäter unterzogen wird. Derzeit stehen dem angeklagten Priester noch mehr Rechte zu, die dem Opfer hingegen vorenthalten werden, und auch das macht es zu einer Person, die keinerlei Bedeutung hat, die behandelt wird, als ob das Ganze sie nichts angehe.

Wer in der Kirche verletzt wurde, will das Recht haben, selbst zu entscheiden, in der Kirche zu bleiben oder sie zu verlassen. Er oder sie will seinen Weg selbst wählen. Er muss nicht darüber belehrt werden, wie sein Verhältnis zu Gott sein sollte: eben das hat der getan, der ihn missbraucht hat. Das Opfer erwartet, dass seine Entscheidungen respektiert werden.

Akzeptanz, Verständnis und Respekt zu erfahren und klar benennen zu hören, wer der Täter und wer das Opfer ist, trägt zur Heilung bei, vor allem dann, wenn der Täter auch der kirchliche Vorgesetzte ist.

Zweitens: Rücksicht nehmen auf die Zeit, deren es zur »Heilung« bedarf

Wer verletzt wurde, will heilen. Und dazu braucht es Zeit und Hilfe. Die Opfer wollen nicht, dass ihnen gesagt oder vorgeschrieben wird, wer ihnen zu helfen hat. Sie wollen selbst entscheiden. Wenn sie Geld benötigen, um den Therapeuten oder den Anwalt zu bezahlen… dann wollen sie auch das Recht haben, auch Hilfe dieser Art in Anspruch nehmen zu können.

Diejenigen, die in der Kirche verbleiben, fragen, ob sie dort Priester finden, die bereit sind, sie auch auf dem Weg zu einer geistigen Heilung zu begleiten, und ob die Menschen, denen sie begegnen, ihnen nicht wieder Schaden zufügen können. Vielleicht nicht mehr durch sexuellen Missbrauch, sondern dadurch, dass sie ihnen ihre Spiritualität, ihre Frömmigkeit aufzwingen, indem sie sie zu einem Exorzisten schicken oder sie dazu zwingen, zu vergeben? Sie wollen keinen weiteren Priester, der sie zu etwas zwingt, gerade weil sie diese Erfahrung bereits gemacht haben aufgrund derer, die sie missbraucht haben und die ihnen durch all das, was sie gesagt oder getan haben, eine verzerrte Vorstellung von Gott, von der Spiritualität, von Religion und Kirche eingepflanzt haben. Sie wollen nicht, dass andere das wieder tun, mit der Ausrede, ihnen Gutes zu tun und ihnen zu helfen. Sie brauchen Zeit, um ihre Wunden zu heilen.

Die Opfer brauchen einen anderen Menschen, der ihnen dabei hilft, Beziehungen zu erleben, die nicht wehtun. Der Priester, der sie  missbraucht hat, hat ihr Vertrauen, ihre Verletzlichkeit, ihre Öffnung dem anderen gegenüber missbraucht. Diesem »Anderen« begegnen sie jetzt mit Misstrauen. Die Kirche ist der Ort, wo ihnen Böses zugefügt wurde, folglich fragen sie jetzt, ob sie ihnen auch den Platz zur Genesung anbieten kann. Ob es in der Kirche einen Platz für sie gibt. Und sie sind besonders empfindlich, wenn ihnen eine unehrliche, misstrauische Haltung entgegengebracht wird, oder auch nur die Unsicherheit, was man mit ihnen tun solle, wie man sie behandeln solle, welcher Platz ihnen in der Kirche zugewiesen werde, um zu vermeiden, dass sie für die anderen zum »Ärgernis« werden. Sie wollen eine Kirche, die nicht nur Lehrmeisterin, sondern Mutter ist. Sie wollen eine Kirche, in der sie das Recht haben, ihrem eigenen Rhythmus gemäß zu existieren und zu heilen.

Wer verletzt wurde erwartet sich auch, dass auch die Gemeinschaft, deren Priester ihr Peiniger war, Hilfe bekommt, da auch sie ein »Opfer« ist, das in dem von diesem Priester begangenen kriminellen Vergehen verletzt wurde.

Die in der Kirche verletzten Opfer wollen während ihres Genesungsprozesses nicht noch ein weiteres Mal das Böse nacherzählen müssen, das ihnen angetan wurde, um »Zeugnis abzulegen«, denn das ist für sie so etwas wie eine Rückkehr in die »Hölle«. Es gibt einen Augenblick, oft erst nach Jahren, wo sie das Bedürfnis verspüren, »sich alles von der Seele zu reden« und alles zu erzählen, aber dann kommt ein anderer Augenblick, wo sie nicht mehr darauf zurückkommen wollen, und zwar gerade, um zu heilen. Nicht um zu vergessen, denn das Vergessen ist unmöglich, aber um weiterzugehen und nicht stillzustehen.

Drittens: Aus ihren Erfahrungen lernen

Die Opfer, oder vielmehr, in der anschließenden Phase, die »thriver« [Förderer] sind Personen, die bereits einen weiten Weg auf dem Weg zur Genesung zurückgelegt haben und imstande sind, ihre eigene Erfahrung aus einem gewissen Abstand zu betrachten. Sie verstehen folglich die Fehler und die Schwächen zu erkennen, die es ermöglichen, dass die Priester auch heute noch Minderjährige und schutzbedürftige bzw. gefährdete Menschen missbrauchen. Sie können die Lücken in der Priesterausbildung, in den Beziehungen zwischen den Priestern, bezeichnen, die sie dazu bringen, Partner unter Minderjährigen zu suchen. Sie können uns sagen, was in der Kultur der Kirche und in ihrer strukturellen Dimension den Missbrauch anderer Menschen begünstigt. Sie können die beste Art und Weise empfehlen, um den Opfern zu helfen und die Fehler zu identifizieren, die die Kirche beim Versuch, ihnen zu helfen, immer noch macht. Schließlich können sie uns sagen, wie man dazu beitragen kann, alle gemeinsam eine »menschlichere« und nicht nur institutionelle Kirche zu errichten. Sie können vorschlagen, wie man in der Kirche mit den Verletzten Gottes – der Zeuge des Traumas war, das sie erlebt haben – sprechen sollte. Das, was sie wissen, ist ein Ergebnis ihrer Erfahrung: der Erfahrung des erlittenen Bösen, aber auch jene des langen Weges der Genesung. Sie können uns also vom Weg berichten, die zur Heilung führt, weil sie ihn bereits zurückgelegt haben und jetzt all das wissen, was sie vorher nicht wussten.

Wollen wir ihnen als Kirche Gehör schenken?

Ich habe mich bemüht, das, was mir Menschen, die in der Kirche verletzt wurden und jetzt verschiedene Phasen der »Genesung« durchlaufen, aus ihrer Perspektive anvertraut haben, wiederzugeben. Jeder Einzelne von ihnen hat mir mehr als nur einen Aspekt aufgezeigt, den er für wichtig hielt. Wahrscheinlich könnte die Liste im Gespräch mit weiteren Personen sogar noch länger werden. Nach Jahren der Begleitung der Opfer sowohl von Priestern als auch von anderen Menschen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass – damit ihre Stimme effektiv »vernommen« wird – eine grundlegende Umwandlung der Kirche vonnöten ist, die heute allzu oft die Form einer funktionalen religiösen Institution annimmt. Trotzdem ist es in einer Kirche, die nur als »Institution« erlebt wird, wahrscheinlich möglich, Anzeigen sexuellen Missbrauchs korrekt entgegenzunehmen, und es gibt dann gute Verhaltenskodizes den Minderjährigen gegenüber, aber es wird nicht möglich sein, in vollem Umfang auf den Schrei der Opfer einzugehen, und es wird auch nicht einmal wirkliche Sorge herrschen, dass niemandem mehr Schaden zugefügt wird, und zwar keineswegs nur von Klerikern. Unter Verzicht auf eine gewisse Kultur der »Macht«, die Kultur eines formell korrekten Umgangs, müssen wir ein Bild Gottes zeigen, der Liebe ist, der zärtlich ist, und jenes einer Kirche, die willkommen heißt und umarmt. Es wäre angebracht, sich zu fragen, ob die Stimme derer, die verletzt, verlassen etc. wurden, nicht eine prophetische Stimme ist, die uns bei der Umkehr helfen kann.

Biographie: Dr. Ewa Kusz arbeitet als Psychotherapeutin in einer Psychologenpraxis, ist Mitglied der Vereinigung Polnischer Psychiater und war Präsidentin der Sektion von Katowice (dt.: Kattowitz) des Verbands Katholischer Psychiater. Sie war Auditorin der XII. und XIII. Vollversammlung der Bischofssynode in Rom. 2012 nahm sie am vatikanischen Symposium »Auf dem Weg zu Heilung und Erneuerung« für die Vertreter der Bischofskonferenzen aus aller Welt zum Thema des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger teil. Sie ist Mitbegründerin des Kinderschutzzentrums der Accademia Ignaziana in Krakau, deren für die Studienprogramme verantwortliche Vizedirektorin sie seit 2014 ist. Sie war Mitglied der Komitees, das in Polen die erste internationale Tagung zum Thema des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in der katholischen Kirche organisiert hat (2014).

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16. September 2021, 14:30