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Archivbild: Bischof Bohdan Dzyurakh (rechts) und Papst Franziskus bei einem Treffen am 27. September 2013. Archivbild: Bischof Bohdan Dzyurakh (rechts) und Papst Franziskus bei einem Treffen am 27. September 2013. 

Ukraine: „Fratelli tutti“ wird der Seelsorge neuen Schwung verleihen

Die neue Enzyklika von Papst Franziskus „Fratelli tutti“ prägt auch die Debatten in den mit Rom unierten Ostkirchen. Die größte unter ihnen ist die ukrainische griechisch-katholische Kirche. Bischof Bohdan Dzyurakh, Sekretär der Synode der Bischöfe der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, erläutert im Interview mit Radio Vatikan, wie der Text des Papstes in dem osteuropäischen Land aufgenommen wurde.

Radio Vatikan: Wie wurde die neue Enzyklika des Heiligen Vaters von den ukrainischen griechischen-katholischen Gläubigen aufgenommen?

Bischof Bohdan Dzyurakh: Da es noch keine ukrainische Übersetzung der Enzyklika gibt, macht dieser wichtige päpstliche Text nur erste Schritte in dem Bewusstsein des Volkes Gottes in der Ukraine. Im Bereich der Verantwortlichen für die Promotion der Soziallehre der Katholischen Kirche hat er dagegen ein großes und lebendiges Interesse erweckt und wird derzeit sorgfältig durchgelesen und analysiert. Gerade in der letzten Woche fand, zum Beispiel, ein Webinar über die Enzyklika statt. Es wurde durch unsere Sozialakademie organisiert und etwa 20 interessierte Spezialisten aus verschiedenen kirchlichen und gesellschaftlichen Bereichen haben daran teilgenommen. Infolge dieses Online-Treffens wurden auch weitere Initiativen angekündigt, die zum Ziel haben, die wichtigsten Botschaften der Enzyklika dem ukrainischen Publikum näher zu bringen. Ich bin persönlich überzeugt, dass die päpstliche Analyse der heutigen Situation in der Welt sehr inspirierend ist und seine Vision der „sozialen Freundschaft“ als Heilmittel gegen viele Krankheiten der heutigen Menschheit der Seelsorge einen neuen Schwung verleihen und auch neue Hoffnung in den Menschen von heute erwecken kann.

Zum Nachhören - das Interview mit Bischof Bohdan Dzyrakh

Radio Vatikan: Was sind wichtige Anhaltspunkte für die Unterstützung der Geschwisterlichkeit in der Ukraine?

Bischof Bohdan Dzyurakh: Der guten jesuitischen Tradition folgend, wird es drei Punkte bei der Antwort auf diese Frage geben…

Erstens scheint für mich eine Bemerkung des Papstes über die Notwendigkeit der Ausdauer, der Geduld und der Opferbereitschaft im Aufbau des gesellschaftlichen Friedens und der tief gehenden Einheit eines Volkes von äußerster Bedeutung.

In einem Land wie der Ukraine, mit einer sehr schmerzhaften älteren wie auch jüngsten Geschichte, mit einer großen Mentalitätsvielfalt in den verschiedenen Regionen und sozialen Gruppen, muss man sich auf einen langen Weg einrichten, um zu einer ersehnten Harmonie und einer echten Einheit zu gelangen. Mit großer Mühe gehen wir diesen Weg voran und die nächsten Worte des Heiligen Vaters stellen für uns eine tröstende Ermutigung dar: „Es gibt keinen Schlusspunkt beim Aufbau des gesellschaftlichen Friedens eines Landes; es handelt sich vielmehr um »eine Aufgabe, die keine Ruhepause zulässt und den Einsatz aller erfordert. Diese Arbeit verlangt von uns, in der Anstrengung nicht nachzulassen, die Einheit der Nation aufzubauen. Sie trägt uns auf, trotz der Hindernisse und der Unterschiede … weiter darum zu ringen, dass eine Kultur der Begegnung gefördert wird (232).

Die Geschwisterlichkeit schließt außerdem jede Art von Unterdrückung und Ausbeutung der armen und gebrechlichen Mehrheit durch einen kleinen und privilegierten Teil der Mächtigen aus. Papst Franziskus bemerkt in der Enzyklika in Bezug auf den ständig wachsenden Abgrund zwischen den Reichen und Armen dieser Welt: „Entwicklung darf nicht die wachsende Bereicherung einiger weniger zum Ziel haben, sondern muss »die persönlichen und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Menschenrechte, die Rechte der Nationen und Völker eingeschlossen«, gewährleisten. Das Recht einiger auf Unternehmens- oder Marktfreiheit kann nicht über den Rechten der Völker und der Würde der Armen stehen…“ (122).

Unser Volk leidet seit Jahren an eine schreiende Ungerechtigkeit, die durch Übermacht und Habgier der großen finanziell-politischen Gruppierungen verursacht ist. Um ihre Macht zu sichern, sind sie in die Politik eingetreten, und um auf die Bevölkerung skrupellos Einfluss auszuüben, bedienen sie sich einer ausgebauten Medienstruktur. Die Metastasen dieses oligarchischen Systems, das sich nach dem Zerfall der Sowjetunion gebildet hat, erschöpfen unseren nationalen Organismus und berauben die ganzen Generationen der Würde, der Träume und der Hoffnung. Ich denke dabei insbesondere an die älteren Menschen, die am Rande ihrer Existenz und Würde stehen, an die vielen jungen Menschen, die keine echte Perspektive im eigenem Land sehen und es möglichst schnell zu verlassen versuchen, ich denke auch an Tausenden Familienväter und -Mütter, die als Arbeitsmigranten über ganz Europa verstreut sind, um ihren Familienangehörigen in der Ukraine ein Minimum an Lebensniveau zu sichern. Eine solche dramatische Situation verlangt dringend einen entschlossenen Durchbruch in der sozialen Politik des Staates und noch mehr – eine tief gehende Reformierung des menschlichen Bewusstseins. Letzteres hat sogar Vorrang. Deshalb beharrt der Papst Franziskus auf „einem unverzichtbaren Wandel im Herzen der Menschen, in den Gewohnheiten und den Lebensstilen“, (166), das mit der Gnade Gottes zu erlangen sei.

Schließlich bleibt in all diesen Herausforderungen und Aufgaben das Wichtigste für uns Jünger Christi, und das ist – ein klares und glaubwürdiges Zeugnis der „sozialen Freundschaft“, eine „Dynamik der Nächstenliebe, die Gott den Menschen eingießt“ (91), die unser ganzes Dasein kennzeichnen soll. Die Nächstenliebe und soziale Freundschaft müssen sehr konkret zum Ausdruck kommen: in den Gesten der Aufmerksamkeit, der Zuneigung und der Zärtlichkeit, wie es das Verhalten des barmherzigen Samariters veranschaulicht. Dabei warnt uns der Papst vor der Versuchung der raschen oder spektakulären Erfolge und lädt uns dagegen zu der Praxis einer selbstlosen alltäglichen und ausdauerhaften Liebe, Solidarität und Geschwisterlichkeit ein. Es hat mich sehr betroffen gemacht diesen konkreten und sehr einfachen Rat, den der Heilige Vater uns in seiner Enzyklika gibt, zu lesen: „Wenn ich es schaffe, nur einem Menschen zu helfen, ein besseres Leben zu haben, rechtfertigt dies schon den Einsatz meines Lebens“ (195).

Radio Vatikan: Wie ist das Verhältnis der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche zu Gemeinschaften anderer Religionen (Islam)?

Bischof Bohdan Dzyurakh: In der Ukraine hat sich dank der gemeinsamen Bemühungen der verschiedenen Kirchen- und Religionsführern eine Tradition der zwischenkonfessionellen Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens der Religionen entwickelt. Es ist eine sehr wertvolle Errungenschaft unserer Unabhängigkeit. Insbesondere wird dieses konstruktive Zusammenwirken in Rahmen des so genannten Allukrainischen Rates der Kirchen und der religiösen Organisationen erkennbar, zu dem die Oberhäupter der 17 Kirchen und religiösen Gemeinschaften der Ukraine gehören, darunter der christlichen, jüdischen und muslimischen. Regelmäßig stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit dieses Gremiums die für das Land und für ukrainische Gesellschaft wichtigen Fragen, und die Früchte eines solchen Ansatzes kommen sowohl in den gemeinsamen Stellungnahmen wie auch in den verschiedenen vereinbarten Maßnahmen zum Ausdruck.

Radio Vatikan: Welchen Wunsch und welche Hoffnungen möchten Sie uns in Bezug auf die Enzyklika mitteilen?

Bischof Bohdan Dzyurakh: Ich betrachte diese Enzyklika als eine prophetische Stimme der Kirche, die unsere Welt heutzutage besonders braucht. So hoffe ich sehr und wünsche uns allen, dass die Sorge des Heiligen Vaters ein Echo in den Herzen der Leserinnen und Leser finden kann und dort ein authentisches Mitgefühl und Mitleid erwecken wird. Denn letztendlich geht es in der Liebe um ein aufmerksames und gütiges Herz, erst dann folgen ein verwandeltes Denken des Verstandes und ein kreatives Wirken der menschlichen Hände.

(vatican news)

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19. Oktober 2020, 10:21