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Trauer vor dem Hauptportal von Notre-Dame in Nizza Trauer vor dem Hauptportal von Notre-Dame in Nizza 

Nizza: „Das Martyrium, zu dem wir jetzt bereit sein müssen“

Viele Menschen in Frankreich sind schockiert von der Bluttat von Nizza – die Angst vor dem Terror, das Gefühl, in einer Art Krieg zu leben, sind auf einmal wieder da.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

Ein Islamist tunesischer Herkunft hatte am Donnerstag in der Mariä-Himmelfahrt-Basilika von Nizza drei Menschen mit einem Messer getötet und weitere Personen verletzt. Besonders grausam: Der Mann (der hinterher von der Polizei festgenommen werden konnte) trennte einer Kirchgängerin mit seinem Messer den Kopf ab. Ein traumatisches Bild.

Yves-Marie Lequin lebt in Nizza; dort arbeitet der Dominikaner als Künstler-Seelsorger. „Jetzt müssen alle Maßnahmen getroffen werden, um unsere Christen zu schützen, alle, die weiterhin einen Gottesdienst mitfeiern wollen. Da muss eine gewisse Sicherheit garantiert werden.“ Das sagt Lequin in einem Interview mit Vatican News.

Die verwirrten Ideologien geduldig bekämpfen

„Und dann muss eben weiter geduldig daran gearbeitet werden, diese völlig verwirrten Ausdrucksformen von Ideologien, die voller Fehler sind, zu bekämpfen, dabei darf man nicht müde werden. Wenn die Gewalt sich erst einmal so ausbreitet, wie das derzeit der Fall ist, dann weiß man natürlich kaum noch, wie man sich verhalten soll.“

Das letzte Attentat in der Stadt hat er selbst miterlebt: Als am Nationalfeiertag 2016 ein Attentäter auf der Seepromenade mit einem Lastwagen in die Menschenmenge raste, gehörte Pater Lequin zu denen, die sich um die Verletzten kümmerten. 86 Menschen kamen damals ums Leben. Am Donnerstag aber bekam Lequin von der Messerattacke in der Mariä-Himmelfahrt-Basilika zunächst nichts mit.

Zeugnis vom Glauben geben, inmitten der Gewalt

Wie reagiert man als Christ am besten auf etwas so Verstörendes? Lequin: „Ich höre, dass viele jetzt sagen: Na ja, wir werden die Kirchen trotzdem offenhalten und irgendwie so tun, als ob nichts passiert wäre, aber was mich selbst betrifft – ich bin nicht dazu bereit, jetzt alle Gläubigen auf das Abenteuer des Martyriums einzustimmen. Martyrium heißt ja eigentlich Zeugnis. Wir sollten weiterhin Zeugnis geben von unserem Glauben, inmitten der Gewalt. Das ist eine Pflicht, und das ist der tiefere Sinn von Martyrium. Welche konkrete Gestalt das dann bekommt, das liegt an jedem Einzelnen und seiner spezifischen Berufung. Jedenfalls kann Martyrium auch einfach in einem abgegebenen Zeugnis bei einer Begegnung oder bei einem interreligiösen Treffen bestehen.“

Übrigens werde gerade in Nizza im Bereich des interreligiösen Dialogs „eine sehr, sehr schöne Arbeit geleistet“, urteilt der Dominikaner. „Es gibt hier einen Verband, der schon seit langem Begegnungen mit dem Islam, mit den Juden organisiert. Da haben wir doch schon mal eine sehr gute Basis – das ist ein Zeichen der Hoffnung.“

Zum Nachhören

Geschwisterlichkeit? Schwierig...

Allerdings – allzu schnell will der Dominikaner mit Begriffen wie „Hoffnung“ oder auch „Geschwisterlichkeit“ nicht bei der Hand sein in so einem schwierigen Moment. Papst Franziskus bricht in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ von Anfang Oktober eine Lanze für Geschwisterlichkeit, und zwar ausdrücklich mit Blick auf den Islam; auf Französisch heißt Geschwisterlichkeit „fraternité“, eine der Hauptlosungen der Französischen Revolution von 1789. Und ein Versprechen, das der französische Staat nur schwer einzulösen weiß.

„Das ist jedenfalls etwas, wovon man kaum etwas hört... Geschwisterlichkeit versteht sich keineswegs von selbst in einem Klima der Gewalt, wie wir es kennen, ja noch nicht einmal in einem friedlichen Klima. Sie ist eine Wirkung der Gnade und verlangt enorme Anstrengung. In unserem Staat erleben wir derzeit ein Klima der Gewalt; die Gewalt hat sich im Herzen vieler Menschen eingenistet, und da ist Geschwisterlichkeit eine riesige Herausforderung. Wir haben im Westen eine Zeitlang in relativem Frieden gelebt und entdecken jetzt auf einmal, dass der Krieg bei uns stattfindet. Man konnte früher so tun, als würde man die Dringlichkeit mancher Probleme nicht so richtig wahrnehmen, und jetzt kommen die auf einmal hoch… Jedenfalls, Geschwisterlichkeit ist immer schwer zu leben.“

Unser geistliches Leben erneuern

Mit den Problemen, die jetzt hochkommen, meint Lequin vor allem Frankreichs Verhältnis zu seinen Muslimen, speziell zu den Menschen in den Vorstädten, den Banlieues. Die Christen ruft der Geistliche dazu auf, über den Schock des Moments hinauszukommen und die Themen Leiden und Tod nicht von sich wegzuschieben, sondern in ihr Glaubensleben zu integrieren.

„Wir haben in unseren Kirchen viele Darstellungen des leidenden Christus; wir wissen, dass Herrlichkeit und Kreuz nah beieinander liegen. Die Kirche folgt in aller Demut Christus, der sie auffordert, auch ihr Kreuz zu tragen; das Leben des Christen ist ein Pilgerweg, auf dem er viel Leid und Schwierigkeiten in dieser Welt erlebt. Wir haben uns lange davon einlullen lassen, dass wir in einem gewissen Frieden lebten – und jetzt erleben auch wir plötzlich die Ängste und Schrecken, die andere Menschen um uns herum schon länger erfahren! Das ist eine Einladung an uns, unser geistliches Leben zu erneuern und, beispielsweise, Heiligkeit nicht als irgendetwas Außerordentliches einzustufen, sondern als Teilhabe am leidenden Leib Christi.“

Wieder etwas aufbauen

Die erste Reaktion eines Christen auf Angst, Krieg und Terror sei Liebe, sagt Pater Lequin. Darum hätten ja auch der Papst wie die Französische Bischofskonferenz in ihren ersten Reaktionen auf die Messerattacke von Nizza zum Gebet aufgerufen. Gebet, das sei „eine erste Bewegung der Liebe“, und man spüre beim Beten auch nach einer Weile, was man tun könne, „um wieder etwas aufzubauen“. „Wir sehen ja, dass in letzter Zeit vieles beschädigt und zerstört worden ist. Also: Wieder etwas aufbauen. Wieder daran arbeiten, dass es Geschwisterlichkeit gibt. Von Tag zu Tag, mit kleinen Dingen. In Gottes Augen gibt es nichts Kleines oder Großes; wenn Liebe im Spiel ist, ist alles groß. Man muss lernen, neu anzufangen, mit kleinen Schritten…“

Sehr ähnlich äußert sich übrigens auch der Bischof von Nizza, André Marceau. Auf Unmenschlichkeit dürfe man nicht mit gleicher Münze reagieren: „Versuchen wir, mit unserer Antwort auf der Höhe unseres Christseins zu sein; bleiben wir die Hüter des Evangeliums, in dem Jesus sagt: Liebt eure Feinde.“

(vatican news)
 

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30. Oktober 2020, 12:07