Auf den Straßen von Yangon Auf den Straßen von Yangon 

Myanmar vor den Wahlen: Ein Land im Krieg mit sich selbst

Alle reden von den Präsidentenwahlen in den USA am kommenden 3. November. Doch im November wird auch anderswo gewählt: in Myanmar zum Beispiel, dem früheren Burma. Dort finden am 8. November Parlamentswahlen statt.

Grund genug, sich mit dem Land zu beschäftigen, das vor ein paar Jahren auf dem Weg zur Demokratie schien, dessen Umgang mit Minderheiten – etwa den muslimischen Rohingya – aber international auf starke Kritik stößt.

Tatsächlich sind Kandidaten der Rohingya von den Wahlen ausgeschlossen. Argument der Wahlkommission: Die Eltern der sechs Kandidaten seien keine Staatsbürger von Myanmar gewesen. Rohingya gelten in Myanmar als illegal eingewanderte Bengalen, darum bekommen sie keine Bürgerrechte. Im Hochsommer vor drei Jahren hat die Armee mehr als eine halbe Million Rohingya gewaltsam aus ihren Dörfern im Bundesstaat Rakhine ins angrenzende Bangladesch vertrieben: eine der größten humanitären Katastrophen unserer Zeit.

Der Traum vom föderalen Staat

Trotzdem gibt es mit Blick auf die Wahlen viele Versuche in Myanmar, innere Konflikte – von denen es eine ganze Reihe gibt – zu befrieden. Eine große Konferenz in der Hauptstadt Naypyidaw bringt in diesen Tagen (von Mittwoch bis zu diesem Freitag) Politiker, Militärs und Vertreter von etwa zehn bewaffneten Gruppen verschiedener Ethnien zusammen, um über den Weg zu einem föderalen, demokratischen Gemeinwesen zu sprechen. Es ist die dritte Runde von Friedenskonferenzen, seit die Partei von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi 2015 an die Macht kam und sich erstmals nach Jahrzehnten der Militärherrschaft eine zivile Regierung gebildet hat.

„Die Konferenz von Panglong heißt so, um an die erste Tagung dieser Art zu erinnern, die 1947 kurz vor der Unabhängigkeit Burmas in Panglong im Bundesstaat Shan stattfand.“ Das erklärt uns der französische Missionar Ludovic Mathiou, der seit 2017 in Myanmar arbeitet. „Myanmar ist ein ethnisches Mosaik. Die wichtigsten Ethnien trafen sich damals, um darüber zu beraten, in welche Richtung das Land nach seiner Unabhängigkeit gehen sollte. Damals wurde an einen föderalen Staat gedacht, und an die Möglichkeit einer Unabhängigkeit für die Staaten Shan und Kaya. Auf dieser Basis kam es dann zur Unabhängigkeit, doch keines dieser Versprechen wurde in die Tat umgesetzt – und das ist die Wurzel der ethnischen Konflikte, die es in Myanmar heute gibt.“

An einer Bushaltestelle in Yangon
An einer Bushaltestelle in Yangon

Ethnische Gruppen, die sich gegenseitig hassen

Vor 73 Jahren war es der Vater der heutigen „Staatsrätin“ Aung, der Myanmar in die Unabhängigkeit führte. Die Tochter – deren Taktieren während der Rohingya-Krise ihr Ansehen international stark beschädigt hat – bekennt sich weiter zum Traum ihres Vaters, so der französische Missionar.

„Die Regierung und vor allem Aung wollen wirklich so eine Föderation, ein geeintes, friedliches Land. Für Aung San Suu Kyi ist die Schaffung autonomer ethnischer Bundesstaaten einer der großen Faktoren für den Frieden, und ich glaube, da hat sie recht. Allerdings muss man dabei das Misstrauen und den Hass der ethnischen Gruppen untereinander dämpfen, der in verschiedenen Teilen des Landes immer wieder gewaltsam aufbricht.“

„Im Bundesstaat Kayah nennt man die Burmesen ‚Filous‘, also Schwindler“

Da sei etwa der Hass – oder wenn man so wolle: das Misstrauen – der burmesischen Mehrheitsbevölkerung gegenüber den ethnischen Minderheiten. „Oft sprechen die Mitglieder dieser Minderheiten die Landessprache nicht sehr gut, und die meisten Minderheiten wohnen in den Bergen oder in entlegenen Gebieten und werden nicht als zivilisiert angesehen. Zugleich sehen die ethnischen Minderheiten die Burmesen als Eroberer, das schlägt sich sogar in der Alltagssprache nieder. Im Bundesstaat Kayah nennt man die Burmesen ‚Filous‘, also Schwindler. Dahinter stecken Jahrhunderte der Auseinandersetzungen und manchmal auch der Rachegefühle…“

Umso wichtiger, dass in so einem Umfeld ein Dialog in Gang kommt, findet der Geistliche. „Das ist nicht schlecht, dass man da einen neuen Anlauf macht, denn die früheren Versuche haben nichts gebracht“, sagt er.

Buddhistischer Mönch meditiert in einer Pagode von Yangon
Buddhistischer Mönch meditiert in einer Pagode von Yangon

Keiner kann alleine unabhängig sein

„Die Herausforderung heißt: ein geeintes Land schaffen, auch wenn es acht ethnische Gruppen gibt, von denen jede wiederum in eine Vielzahl von Untergruppen mit jeweils eigener Sprache, Kultur und Geschichte zerfällt. Oft bestand die Geschichte dieser Gruppen untereinander aus Krieg! Hinzu kommt die Frage der Kolonialzeit, die bis heute nicht aufgearbeitet ist. Die Shan zum Beispiel waren während der britischen Herrschaft völlig unabhängig, jetzt aber nicht mehr. Diese Probleme muss man an der Wurzel anpacken. Föderalismus wäre hilfreich, weil er jedem seine Sprache, Kultur und Religion belassen, gleichzeitig aber die Einheit des Landes garantieren würde.“

Für die Entwicklung in Myanmar wäre das wichtig, findet Ludovic Mathiou. „Denn kein Teilstaat hat die Mittel, um ganz allein unabhängig zu sein. Der Staat Chin, in dem ich lebe, hat überhaupt keine Ressourcen, dafür aber eine eigene Kultur und nicht weniger als sechzig Sprachen! Dass die einen die anderen respektieren – schon das würde sehr helfen.“

Zum Nachhören

Fünfzig bewaffnete Gruppen

Insgesamt sind in Myanmar noch fünfzig bewaffnete Gruppen aktiv, die für die Rechte ihrer jeweiligen Ethnie kämpfen. „Am aktivsten ist die Nördliche Allianz, vor allem im Bundesstaat Rakhine im Süden. Es gab mehrmals einseitige Waffenstillstände, die mal von der Armee, mal von den Kämpfern ausgingen – aber ich habe in einer Zeitung gelesen, dass es in diesem Krieg seit 2019 nur 225 Friedenstage gegeben hat. Man kann sagen, dass Myanmar seit siebzig Jahren im Kriegszustand ist.“

Vertreter der Nördlichen Allianz wurden nicht zur Friedenskonferenz eingeladen, weil sie als „Terroristen“ gelten. Sieben bewaffnete Gruppen haben die Einladung der Politiker und Militärs zu der Konferenz ohnehin ausgeschlagen. Ohne die Generäle, die jahrzehntelang in Myanmar das Sagen hatten, ist eine Friedenslösung gar nicht vorstellbar, sagt Ludovic Mathiou.

„Die Armee hat die Macht“

„Die Armee ist mehr als nur einflussreich: Sie hat die Macht! Eine sehr wichtige Rolle. Nicht nur, dass sie bei der Konferenz mit am Tisch sitzt. Sie hält auch ein Viertel der Sitze in beiden Häusern des Parlaments, darum kann sie alle Entscheidungen blockieren. Die Armee ernennt den Innenminister, den Grenzminister und natürlich auch den Verteidigungsminister. Laut Verfassung stehen ihr die großen Ministerien zu. Ohne Armee kann man in Myanmar nichts tun. Mein Eindruck ist, dass Aung San Suu Kyi auf die ethnischen Minderheiten und deren politische Parteien setzt, um eine Mehrheit im Parlament zu bekommen und endlich die Verfassung ändern zu können. Das ist eine der großen Herausforderungen der Wahlen vom November: Um die Rolle der Armee eindämmen zu können, muss man die Verfassung ändern – das ist nicht selbstverständlich.“

In den Konfliktgebieten an den Landesgrenzen sei es die Armee und nicht etwa die Regierung, die das Sagen habe, urteilt der Missionar. Solange die zahlreichen ethnischen und militärischen Konflikte weitergingen, versuchten junge Leute ins Ausland zu emigrieren und sei die Entwicklung im Land unmöglich.

Bananenmarkt am Yangon-Fluss
Bananenmarkt am Yangon-Fluss

Ein reiches Land mit armen Einwohnern

„Im Bundesstaat Kachin und bestimmten Regionen des Staaten Shan gibt es tatsächlich keine Entwicklung, weil die Leute vollauf damit beschäftigt sind, einfach vom einen Tag auf den nächsten zu überleben. Schon das Anbauen von Reis ist unmöglich, wegen der Bombardements. Mit Tourismus ließe sich etwas machen, wie in anderen Ländern Südost-Asiens, aber bei den Konflikten geht das natürlich nicht. Die Ressourcen werden von den bewaffneten Gruppen geplündert, von der Armee… Kardinal Bo hat mal formuliert, Myanmar sei ein reiches Land, aber mit armen Einwohnern – und das stimmt. Vor allem in den Bundesstaaten an der Peripherie, an den Grenzen, die sich wegen der ethnischen Spannungen und diesen Kriegen nicht weiterentwickeln können.“

Auf die Frage, welche Hoffnungen er für Myanmar hege, sagt Ludovic Mathiou: „Es wäre schon etwas, wenn die Wahlen gut ablaufen. Und dann wird man Myanmar einfach Zeit geben müssen. Seit siebzig Jahren versucht das Land, aus dieser Krise herauszukommen…“

Die Kirche als Modell?

Für ihn sei es das Entscheidende, dass das frühere Burma bei seinen Bemühungen um nationale Einheit einen Schritt weiterkommt. „Bei der Unabhängigkeit sagte der Ministerpräsident, die Kirche sei ein Modell dafür. Die Kirche ist hier in Myanmar der einzige Ort, wo man verschiedene ethnische Gruppen zusammen beten und leben sieht, vor allem in den Großstädten – auf dem Land weniger. Ich glaube tatsächlich, dass die Kirche dieses Beispiel der Diversität in der Einheit geben kann: Wenn sich das auf das Land anwenden ließe, das wäre wirklich nicht schlecht!“

(vatican news – sk)
 

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21. August 2020, 08:23