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Caritas in Europa: „Wir brauchen mehr, nicht weniger Europa“

Der österreichische Priester Michael Landau ist neuer Präsident von Caritas Europa. Im Interview mit uns spricht der langjährige Caritas-Österreich-Direktor über die derzeit dringendsten Anliegen der Nächstenliebe in Europa. Die liegen nicht nur auf dem Kontinent selbst, sondern auch jenseits seiner Grenzen.

Gudrun Sailer - Vatikanstadt

Radio Vatikan: Wo sehen Sie die größte Herausforderung von Caritas Europa zum gegenwärtigen Zeitpunkt?

Michael Landau: Im Moment ist sicher weltweit und auch in Europa die Coronakrise bestimmend. Eine weltweite Pandemie, die uns in ihren Auswirkungen noch sehr lang beschäftigen wird. Es geht darum, auf europäischer Ebene alles zu unternehmen, dass aus der Gesundheitskrise von heute nicht die soziale Krise von morgen wird.

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Dabei wird es auch wesentlich sein, die anderen Krisen nicht zu vergessen, ich denke an die Klimakrise und das Leid von Menschen auf der Flucht. Die demografischen Herausforderungen, vor denen weite Teile Europas stehen, die älter werdende Gesellschaft. Es geht aber ebenso um die Frage des Zugangs zur Bildung für alle Kinder, damit kein Talent verlorengeht, es wird – und das scheint mir auch für Europa ein wesentliches Element im Selbstverständnis zu sein – darum gehen, auch die weltweite Verantwortung nicht aus dem Blick zu verlieren.

Radio Vatikan: Woran denken Sie da zuerst?

Michael Landau: Wir erleben eine dramatische Zunahme des Hungers. Wenn ich daran denke, dass es gemeinsam gelungen war, in den vergangenen Jahren den Hunger auf der Welt doch maßgeblich zu reduzieren, ist das eine schwierige Entwicklung.

Radio Vatikan: Wie sehen Sie denn das christlich geprägte Europa da derzeit aufgestellt, wenn es um Solidarität geht?

Michael Landau: Europa ist ein gemeinsames Friedensprojekt, das auf einem gemeinsamen Fundament errichtet worden ist, einem Fundament der Werte der Solidarität. Dieses Fundament zu stärken halte ich für eine wesentliche Aufgabe der Caritas - auf europäischer und internationaler Ebene. Wahr ist, wir hatten eine lange Periode, wo das Gemeinsame nicht in Frage gestellt worden ist. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009, so habe ich den Eindruck, ist dieses gemeinsame Fundament der Werte, der Solidarität, des Zusammenhalts, der Zuversicht ein Stück weit in Frage gestellt worden. Etwas Ähnliches erfahren wir jetzt, wo jeder sich selbst der Nächste zu sein scheint.

Radio Vatikan: Was folgt daraus?

Michael Landau: Ich bin überzeugt, wir brauchen gerade auch in der Krise, um aus der Krise gut herauszukommen, einen starken Fokus auf das Gemeinsame. Das ist deutlich: Die großen Aufgaben lassen sich nur gemeinsam gut bewältigen. Es geht um eine Welt, eine Menschheitsfamilie, um das gemeinsame Ziel, im Kleinen wie im Großen niemanden zurückzulassen.

Radio Vatikan: An den Rändern Europas spielen sich, von Corona ungebremst, Flüchtlingstragödien ab, wie wir sie schon viel zu lange gewohnt sind. Kann die Kontroverse über die Wiederöffnung der Grenzen in dieser neuen Phase des Covid-19-Notstands in irgendeiner Weise die Erholung des Kontinents behindern?

Michael Landau: Aus meiner Sicht macht die aktuelle Krise deutlich: Nationalstaaten können vieles. Aber eine Pandemie besiegen können sie nicht. Ich bin zuversichtlich, dass sich Europa beim anstehenden Wiedererstarken bewähren wird. Ich möchte hier auch den heiligen Papst Johannes Paul II. erinnern. Er hat immer wieder für ein Europa geworben, das auf beiden Lungenflügeln atmen muss. Er hat auch daran erinnert, dass es gilt, das teils unmenschliche Wohlstandsgefälle innerhalb Europas abzuflachen und zu beseitigen. Hier ist viel geschehen. Aber hier ist auch noch viel zu tun.

Die europäische Einigung nicht zurückbuchstabieren

Ein Stück weit will ich auch davor warnen, die europäische Einigung zurückzubuchstabieren. Ich bin überzeugt, wir brauchen mehr, nicht weniger Europa. Das ist schon praktisch klar: Im Vergleich zu den USA und China ist jedes europäische Land klein. Ich sage es nochmal - die großen Aufgaben können nur gemeinsam bewältigt werden. Bei der Coronakrise, beim Kampf gegen Hunger, beim Thema Flucht, aber auch bei der Klimakrise.

Radio Vatikan: Bei der Jahresversammlung von Caritas Europa wurde auch über die fünf Jahre von Laudato Si gesprochen. Papst Franziskus hat soeben ein Jahr der Reflexion über das Dokument und die Sorge um das gemeinsame Haus eingeleitet. Wie sehen Sie das Engagement für die ökologische Frage der Kirche in Europa?

Michael Landau: Ich bin persönlich überzeugt, dass Laudato Si ein prophetisches Dokument ist. Es erinnert an die gemeinsame Verantwortung für das gemeinsame Haus der Schöpfung. Laudato Si erinnert, dass es immer die schwächsten sind, die an einer Krise am meisten leiden. Der Papst macht Mut zu glaubend, dass wir etwas ändern können und sollen und dass es dabei auf jeden ankommt. Zugleich entwirft er damit einen weiten Horizont, unsere Zukunft ruht auf zwei Pfeilern, Gerechtigkeit und Liebe. Vor fünf Jahren war die Verwunderung groß, als dieses Dokument erschienen ist. Heute ist völlig klar: Wirtschaft und Soziales gehören zusammen gedacht. Das sind zwei Pfeiler derselben Brücke, und die Brücke braucht beide Pfeiler. Heute ist aber auch klar, wir dürfen dabei den größeren Kontext nicht vergessen, die gemeinsame Verantwortung für das gemeinsame Haus dieses einen Welt. Das ist ein prophetisches Dokument, und ich glaube dass Laudato Si auch ein wesentliches Dokument der Orientierung für die Caritas in Österreich, Europa und weltweit sein muss.

(vatican news - gs)

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26. Mai 2020, 12:28