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Coronakrise: Philosoph Agamben kritisiert Politik und Kirche

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben äußert grundsätzliche Bedenken gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Regierungen hätten vorschnell mit Notverordnungen das Prinzip der Gewaltenteilung ausgehebelt, das die Demokratie definiert. Schwere Vorwürfe erhebt Agamben gegen die katholische Kirche. Sie habe „vergessen, dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten“.

Agamben formulierte seine Einwände in einem Essay, den die NZZ am Mittwoch veröffentlichte. Aus seiner Sicht sei im Kampf gegen die Pandemie die „Schwelle, welche die Menschlichkeit von der Barbarei trennt, überschritten“. Noch nie in der Geschichte sei es so weit gekommen, dass im Namen eines bloßen Risikos Menschen einsam sterben und ihre Leichen ohne Bestattung verbrannt werden mussten. Im Namen desselben Risikos habe man auch hingenommen, die Pflege von Beziehungen einzustellen. Nicht einmal während der Weltkriege sei die allgemeine Bewegungsfreiheit derart eingeschränkt gewesen wie jetzt, brachte der 78-jährige italienische Philosoph vor.

Möglich werden konnte dies aus Agambens Sicht, weil die moderne Gesellschaft die Einheit der Lebenserfahrung des Menschen aufgespalten habe: einerseits in die biologische, andererseits in die affektive und kulturelle Dimension des Menschen. Die moderne Medizin habe an dieser Spaltung einen entscheidenden Anteil, schrieb Agamben und verwies auf „Wiederbelebungs-Apparate”, die „einen Körper in einem Zustand des vegetativen Lebens zu erhalten vermögen”.

„Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte“

Schwere Vorwürfe erhebt der renommierte italienische Philosoph gegen die katholische Kirche. Diese habe in der Coronakrise „ihre wesentlichen Prinzipien radikal verleugnet“ und sich „zur Magd der Wissenschaft gemacht”, die ihrerseits „zur neuen Religion unserer Zeit geworden” sei: „Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte. Sie hat vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten.”

Auch der Politik und namentlich den Juristen wirft Agamben schweres Fehlverhalten vor. Er sprach vom „leichtfertigen Gebrauch von Notverordnungen”, wodurch sich „die Exekutivgewalt de facto an die Stelle der Legislativgewalt setzt und damit jenes Prinzip der Gewaltenteilung aushebelt, das die Demokratie definiert.” In diesem Fall sei „jede Grenze überschritten”.

„jede Grenze überschritten“

Dem Einwand, die schweren Opfer seien „im Namen moralischer Prinzipien dargebracht worden”, hielt Agamben entgegen, auch Adolf Eichmann habe sich stets auf sein Gewissen und die Gebote der kantischen Moral berufen. „Eine Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ist ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten”, so Agambens Fazit.

(nzz/vatican news – gs)



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16. April 2020, 12:30