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75 Jahre nach dem Holocaust nimmt Antisemitismus in Europa wieder zu. In Rom wurde bei einem Erinnerungsmarsch der Opfer der Shoah gedacht 75 Jahre nach dem Holocaust nimmt Antisemitismus in Europa wieder zu. In Rom wurde bei einem Erinnerungsmarsch der Opfer der Shoah gedacht 

Interview: „Antisemitismus ist ein hartnäckiges Problem“

Am Internationalen Holocaust-Gedenktag wird überall in Europa diskutiert, wie dem zunehmenden Antisemitismus begegnet werden kann. Unser Kollege Michael Hermann hat die Debatte in den letzten Monaten aufmerksam verfolgt. Er sagt, die Bekämpfung des Antisemitismus ist „sicher eine Daueraufgabe".

Welche Ursachen Judenfeindlichkeit 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz hat, welche Maßnahmen effektiv sind – das sind Fragen, die von Wissenschaftlern, politischen Bildnern und Politikern nicht leicht zu beantworten sind. Unser Kollege Michael Hermann verfolgt die Debatte schon lange und hat in Auschwitz eine internationale Konferenz zu diesem Thema besucht. Wir wollten von ihm wissen, was sich gesichert über das Phänomen des modernen Antisemitismus sagen lässt:

„Ein Problem bei der wissenschaftlichen Auseinanderansetzung ist die erhebliche Dunkelziffer“

Michael Hermann: Dass antisemitische Haltungen und antisemitische Gewalttaten in europäischen Staaten in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben, ist sicher unbestritten. Dennoch ist es eine Art black box, mit der wir es hier zu tun haben. Antisemitische Vorfälle sind nicht durchgängig und nicht überall in Europa bislang im Zeitverlauf, also längsschnittlich,  erfasst worden. Deshalb kann man kaum Aussagen treffen, wie sich die Qualität und Quantität von Antisemitismus genau verändert. Das ist auch eine Forderung bzw. eine Empfehlung in den europäischen Staaten, solche Systeme des Monitorings aufzubauen und dabei nicht nur diejenigen Vorkommnisse zu erfassen, die strafrechtlich relevant sind. Ein Problem bei der wissenschaftlichen Auseinanderansetzung mit Antisemitismus ist auch, dass es eine erhebliche Dunkelziffer gibt. Viele Delikte werden nicht angezeigt und tauchen damit natürlich in keiner Statistik auf. Wichtig sind die subjektiven Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung in Europa. Und diese subjektiven Erfahrungen geben sicher Anlass zu großer Sorge.

Zum Nachhören

Radio Vatikan: Kommen wir zu den Ursachen: Welche gesicherten Inforationen gibt es zu den Gründen des aktuell zunehmenden Antisemitismus?

Michael Hermann: Es ist sicher ein multifaktorielles Geschehen, das weit über den -  wenn man so will - traditionellen rassistischen und manchmal religiösen Antisemitismus hinausgeht. Speziell in Deutschland spricht man von einem sekundären oder Schuldabwehrantisemitismus. Dieser drückt sich aus in Positionen wie: Deutschland hat doch genug gebüßt, das Thema wird überstrapaziert, es sollte ein Schlussstrich gezogen werden. Eine Rolle spielt sicher auch der ungelöste Nahostkonflikt.

„Im Internet und sozialen Medien können sich krude Theorien, Verschwörungsmythen, rasant schnell weiterverbreiten.“

Das ganze findet eine Art Katalysator: Das ist das Internet, die sozialen Medien, in denen sich krude Theorien, Verschwörungsmythen rasant schnell weiterverbreiten können. Hinzu kommt, dass sich die Grenzen des Sagbaren deutlich verschoben haben, dass wir es mit einer Verrohung von Sprache zu tun haben. Darauf hat gerade an diesem Tag die Schriftstellervereinigung PEN besonders hingewiesen.

Radio Vatikan: Welche Maßnahmen wurden und werden in den europäischen Staaten gegen Antisemitismus ergriffen?

Michael Hermann: Die bessere Erfassung vor antisemitischen Vorkommnissen habe ich vorhin bereits angesprochen. In vielen Ländern wird auch über eine Intensivierung der Holocaust-Bildung, in den Schulen, als Form politischer Bildungsarbeit gesprochen. Da ist es nicht nur mit einer quantitativen Ausweitung getan. Es ist ein pädagogischer Diskurs notwendig, wie der Holocaust und die Ursachen von Judenfeindlichkeit der jungen Generation adäquat vermittelt werden können. In Deutschland wird zum Beispiel, gerade heute, kontrovers diskutiert, ob es verpflichtende Gedenkstättenbesuche geben sollte. Manche Länder setzen vorwiegend auf eine verstärkte strafrechtliche Sanktionierung, so beispielsweise Ungarn mit seiner zero-tolerance-Politik. Ungarn sieht sich aufgrund dieser Politik als ein sehr sicheres Land für Juden. Allerdings müsste man hier dann auch diskutieren, inwiefern sich diese Politik auch auf latent vorhandene antisemitische Einstellungen auswirkt. Klar ist, dass der Diskurs insgesamt eher noch am Beginn ist und dass es dringend einer Überprüfung der Wirksamkeit der verschiedenen Maßnahmen bedarf.

„Klar ist auch, dass Antisemitismus ein sehr hartnäckiges Problem ist.“

Radio Vatikan: Es gibt also noch viel zu tun. Können wir denn hoffen, dass es schon bald nachhaltige Erfolge bei der Bekämpfung von Antisemitismus geben wird?

Michael Hermann: Erfolge wird es sicher geben. Aber klar ist auch, dass Antisemitismus – wie uns leider die Vergangenheit lehrt – ein sehr hartnäckiges Phänomen und Problem ist. Insofern ist die Bekämpfung des Antisemitismus sicher eine Daueraufgabe.

Die Fragen stellte Stefanie Stahlhofen

(vatican news)

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27. Januar 2020, 15:24