Ein bei einem Taliban-Angriff verwundeter Mann (r.) in einem Krankenhaus von Kabul Ein bei einem Taliban-Angriff verwundeter Mann (r.) in einem Krankenhaus von Kabul 

Afghanistan: Der Taliban-Lehrer kommt wenigstens pünktlich...

Die Taliban in Afghanistan fahren zweigleisig: Auf der einen Seite führen sie Friedensgespräche mit Oppositionellen und Amerikanern, auf der anderen Seite setzen sie Angriffe auf Vertreter der Zentralregierung fort.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

„Die afghanische Regierung kontrolliert nur noch dreißig Prozent des Territoriums wirklich“, sagt der französische Forscher Didier Chaudet vom pakistanischen Think tank IPRI im Interview mit Radio Vatikan.

„Das heißt im Umkehrschluss, dass siebzig Prozent nicht mehr von ihr kontrolliert werden und dass es dort zumindest einen Einfluss der Taliban gibt, wenn nicht mehr. Oft sind es in diesen Gebieten die Taliban, die entscheiden, wann die Regierungssoldaten sich mal blicken lassen dürfen – unter Aufsicht der Taliban, und ohne Waffen.“

Taliban kümmern sich um Sicherheit und Justiz

Anders als man sich das im Westen so denkt, verfügen die Taliban dabei über eine ungebrochene Attraktivität für viele Menschen im Land.

„Die Logik der Taliban besteht tatsächlich seit einigen Jahren darin, als wirkliche politisch Verantwortliche aufzutreten. Sie kümmern sich also um Sicherheit und Justiz, und sie lieben es, zu beweisen, dass sie in den von ihnen kontrollierten Gebieten viel effizienter für Gerechtigkeit sorgen können als die afghanische Regierung. Aber sie gehen noch weiter, und oft auf ziemlich intelligente Weise. So laufen in ihren Gebieten viele Schulen, weil die Taliban dafür sorgen, mit Geld der afghanischen Regierung oder dank US-Geldern, wobei die Taliban aber die Inhalte bestimmen. Diese Schulen sind populär, weil die Lehrer hier pünktlich kommen und wirklich alle Unterrichtsstunden halten.“

Zum Nachhören

Man müsse sich das einmal vorstellen: Früher seien die Taliban dafür bekannt gewesen, dass sie alle Schulen schlossen. Und heute präsentierten sie sich dem staunenden afghanischen Volk als die effizienteren Schulträger.

„Leider ist das offizielle afghanische Justizsystem korrupt bis in die Knochen…“

Vor allem aber durch ihre Justiz machen sich die Taliban im Land viele Freunde.

„In einem Land wie Afghanistan bedeutet der Einsatz für die Scharia in erster Linie: Hier gibt es eine Justiz, die nicht korrupt ist. Eine Justiz, bei der man dem Richter kein Geld zuzustecken braucht. Das ist die große Stärke der Taliban: Wenn Sie Probleme mit einem Richter oder einem Kriegsherrn haben, der den Taliban nahesteht, dann können Sie sich über den Mann beschweren, und er wird seinen Prozess und seine Strafe bekommen. Die Strafe kann schrecklich sein – aber das, was uns schrecklich vorkommt, scheint den normalen Menschen in Afghanistan eine gute Sache zu sein. Sie brauchen nicht drei, vier Jahre zu warten, bis ein Konflikt geregelt ist. Die Taliban regeln ihn schnell und ohne Korruption. Leider ist das offizielle afghanische Justizsystem korrupt bis in die Knochen…“

Vom islamischen Fundamentalisten bis zum Drogenbaron

Was die Ideologie der Taliban betrifft, meint Chaudet, diese sei zwar „furchtbar“, aber durchaus „für einen Teil der afghanischen Bevölkerung attraktiv“. Dazu komme der Nationalismus der Taliban, die in der Regel Paschtunen sind: Viele Afghanen sympathisierten mit dieser Haltung, die sich gegen die Einmischung ausländischer Kräfte in die Angelegenheiten des Landes wehre.

Dass die Taliban eines Tages wieder an die Macht kommen in Kabul, will der französische Forscher nicht ausschließen – ausgemacht sei es aber nicht. Ihre Schwäche sei „ihr Stolz“; zwar seien sie derzeit „organisierter als die Zentralregierung“, doch starke Spaltungen gebe es auch in ihren Reihen. Einige wollten den Islam voranbringen, andere seien nur an der Macht interessiert oder gar zu Drogenbaronen geworden.

(vatican news – sk)
 

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10. August 2019, 10:59