Menschenhändler kennen kein MItleid Menschenhändler kennen kein MItleid 

Der Kreuzweg der modernen Sklaverei: Opfer berichten

Auch an diesem Karfreitag wird der Papst traditionsgemäß ab 21 Uhr der Kreuzwegmeditation am Kolosseum vorstehen, Vatican News überträgt live und mit deutschem Kommentar. In diesem Jahr wurden die Texte der Meditationen durch die italienische Consolata-Missionarin Eugenia Bonetti verfasst. Die Ordensfrau hat das Netzwerk „Slaves no more“ gegründet, mit dem sie aktiv gegen modernen Menschenhandel kämpft.

Christine Seuss und Marie Duhamel - Vatikanstadt

Auf ihren 14 Kreuzwegstationen macht Schwester Bonetti nun mit eindringlichen Worten auf das Schicksal der Opfer von Menschenhandel und Sklaverei aufmerksam. Darunter sind oft Minderjährige und Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden. Dank der unermüdlichen Arbeit vieler kirchlicher Akteure können immer wieder Menschen aus dem Teufelskreis der modernen Sklaverei gerettet werden – unter ihnen sind zwei junge Frauen aus Nigeria, Edith und Joy, beide 23 Jahre alt, die durch die Gemeinschaft Sant‘Egidio aufgenommen wurden.

Was die Freier nicht sehen wollen

Es ist ein alltägliches Bild an italienischen Straßenrändern: junge Frauen, oftmals aus Osteuropa und Afrika, besonders viele aus Nigeria, die ihren Körper zum Verkauf anbieten. Was die Freier, die auf diese Angebote eingehen, nicht sehen wollen: die meisten Frauen sind keineswegs freiwillig dort, sondern werden durch skrupellose Menschenhändler und Zuhälter, moderne Sklavenhalter, zu dem hässlichen Geschäft gezwungen. Zehntausende Frauen allein aus Nigeria sollen Schätzungen nach unfreiwillig anschaffen, etwa 90 Prozent von ihnen kommen aus dem südlichen Bundesstaat Edo. Sie stammen aus armen Familien und sind oft Waisenkinder.

„Viele Leute weinten, aber ich nicht, weil ich sowieso schon so viel durchgemacht hatte“

Im Alter von 9 Jahren wurde Edith im Haus ihres Onkels aufgenommen. Sie ging eine Weile zur Schule, aber ihre Tante wollte, dass sie zu den Familienkosten beiträgt: Sie ließ sie arbeiten, später versuchte sie, sie in Dubai zur Prostitution anzubieten, ohne Erfolg. Im Jahr 2014, im Alter von 19 Jahren, bekam sie unverheiratet eine Tochter. Ihre Tante zwang sie daraufhin, nach Norden in Richtung Libyen zu reisen, mit dem Bus bis zur Grenze, dann durch die Wüste.

Hier zum Nachhören

„Viele Menschen sind gestorben. Ich habe überall Leichen gesehen. Viele Menschen wurden missbraucht, vergewaltigt. Die Jungen schlugen sie zusammen, sammelten das Geld ein. Viele Leute weinten, aber ich nicht, weil ich sowieso schon so viel durchgemacht hatte. Ich war bereit, mich allem zu stellen. Entweder du überlebst oder du stirbst.

„Mein einziger Freund war meine Bibel“

Joy hingegen verließ freiwillig ihren strengen Vater und ihre Stiefmutter, die sie mit Gewalt mit einem alten Mann verheiraten wollte. Das Mädchen wollte bei einer Freundin ihrer Mutter Zuflucht suchen, doch die hatte kein Mitleid und verkaufte sie an eine Nigerianerin in Libyen.

„Meine Welt ist zusammengebrochen. Ich war verzweifelt. Es war wirklich schwer und ekelhaft, mich so zu sehen. Ich fragte mich, warum ich vor dem alten Mann weggelaufen bin, mit dem sie mich verheiraten wollten, um dann nicht mit einem, nicht mit zwei, sondern mit Tausenden von Männern für Geld zu schlafen. Und ich konnte nicht einmal das Geld ranschaffen, das sie forderte. Ich konnte nicht viel tun. Ich war darauf nicht vorbereitet, ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich habe die ganze Zeit geweint. Ich betete, ich betete zu Gott: Wenn er nicht wollte, dass ich in dem Land namens Libyen sterbe, in das er mich geschickt hatte, musste er mir Hilfe schicken. Ich war ganz allein. Mein einziger Freund war meine Bibel.“

Eine Qual, die drei Jahre dauerte, bevor die Zuhälterin ihr anbot, ihre Freiheit in Europa zu erkaufen. Sie stellte ihr jedoch die Bedingung, dass sie bei einer traditionellen „Juju“-Zeremonie vor einem Führer ihrer ethnischen Gruppe der Edo einen Eid ablegen sollte, der eine moralische und religiöse Verpflichtung zum Gehorsam ihrer „Besitzerin“ gegenüber darstellte. Doch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft überwog und brachte sie dazu, die Segel zu setzen. Wie sie selbst gelangte auch Edith drei Wochen in einem der berüchtigten libyschen „Ghettos“, wo Hunderte von Sklaven zusammengepfercht leben, ans Meer.

„Irgendwas stimmte mit dem Boot nicht. Das Benzin entzündete sich. Viele Leute hatten verbrannte Haut. Mein Körper war warm, als hätte ich Feuer gefangen. Ich habe kein Bild davon, weil ich das Bewusstsein verloren habe... und da war ein kleines Mädchen. Sie saß neben mir. Sie war meine Freundin in Libyen. Als ich ohnmächtig wurde, ließ ich sie ins Wasser fallen. Sie hat es nicht überlebt. Wenn ich darüber nachdenke, tut sie mir leid, sie war nur ein kleines Mädchen. Aber wenn ich an mich selbst denke, bin ich froh, überlebt zu haben... und ich weiß, dass Gott immer vergeben wird...“

„Ich brachte kein Geld ein... also hat sie mich oft verprügelt“

Stark verbrannt und noch unter Schock wird sie 5 Tage später wieder die Überfahrt wagen. Diesmal wird ihr Boot gerettet. Nach ihrer Ankunft in Italien wird Edith einen Monat lang behandelt. Als Volljährige wird sie aus dem Krankenhaus entlassen, ohne jedoch ihre Freiheit wiederzuerlangen.

„Ein Mensch führte mich zu einer Frau. Sie sagte mir, sie sei meine Lady. Sie nahm alles von mir, die Lageradresse, meine Telefonnummern. Es war Winter, aber jede Nacht brachten sie mich mit auf die Straße. Ich war nicht in der Lage, den Job zu erledigen... Ich brachte kein Geld ein... also hat sie mich oft verprügelt.“

„Ich hatte solche Angst“

Von Sizilien bis Verona, von Neapel über Venedig und Mestre auf dem Weg nach Frankreich gibt es immer eine „Lady“, die sie zum Anschaffen schickt. Edith und Joy hatten die Kraft, mehrmals zu entkommen, aus den überfüllten Räumen zu fliehen, für die sie monatlich mehrere hundert Euro im Monat bezahlen mussten, ohne einen Cent beiseitelegen zu können. Doch es war viel schwieriger für sie, ihren Eid zu vergessen, ein tiefes Trauma, wie Joy uns erklärt.

„In Afrika glauben wir, dass du dein Leben in Gefahr bringst, wenn du gegen einen Eid verstößt. Manchmal funktioniert es nicht, aber es funktioniert, wenn man daran glaubt, wenn der Kopf voll davon ist. Ich hatte solche Angst. Jede Nacht sah ich diese Frau (die nigerianische Zuhälterin aus Libyen), die mich bedrohte und mir sagte, dass sie mich verrückt machen würde, dass sie mich töten würde. Eines nachts sagte ich ihr: ,Wenn du mein Leben nehmen willst, wenn du denkst, dass es dir gehört, dann nimm es dir. Wenn ich sie in meinen Träumen sah, zitterte ich und versuchte, meine Augen zu öffnen, aufzuwachen. Manchmal erschien sie mir in menschlicher Form, manchmal war sie ein Monster, das nicht zu bekämpfen war. Ich hatte immer Angst.“

Eine wichtige Geste gegen Menschenhandel

Das Leben Tausender nigerianischer Frauen hat im März 2018 eine Wende genommen. Um dem Menschenhandel einen Riegel vorzuschieben, hatte der traditionelle und einflussreiche Herrscher von Benin City, Oba Ewuare II., Juju-Zeremonien verboten, mit denen gehandelte Frauen zum Gehorsam gegenüber ihren Sklavenhaltern gezwungen werden. Damit verbundene Eide hatte das traditionelle Oberhaupt des Edo-Volksstammes, aus dem die meisten Opfer von Menschenhandel in Nigeria stammen, rückwirkend für nichtig erklärt. Diese bahnbrechende Geste bedeutete für Joy wie für zigtausende andere Frauen das Ende der Alpträume, des erzwungenen Schweigens, der Angst. Die andere Befreiung verdankt Joy der Gemeinschaft Sant‘Egidio, die nigerianische Frauen auf den italienischen Straßen oder in Abschiebezentren trifft, um ihnen dabei zu helfen, ein würdevolles Leben in Italien aufzunehmen.

„Selbst wenn sie dich nicht kennen und nicht wissen, woher du kommst, tun sie ihr Bestes, um dich zu einer besseren Version von dir selbst zu machen“

„Die Begegnung mit der Gemeinschaft von Sant‘Egidio war ein wunderbarer Moment. Menschen zu treffen, die dich lieben, die sich um dich kümmern, die immer deine Interessen in den Vordergrund stellen. Selbst wenn sie dich nicht kennen und nicht wissen, woher du kommst, tun sie ihr Bestes, um dich zu einer besseren Version von dir selbst zu machen. Es war für mich ein Privileg, diese Personen nach vielen Jahren des Schmerzes, des Leidens und der Ablehnung zu treffen. Ich bin glücklich und dankbar, dass ich ihnen begegnet bin.“

Heute sagt Joy, dass sie keinen Hass für diejenigen empfindet, die sie zur Sexsklavin gemacht haben. Die Rache, sagt sie, gehört nur Gott. Sie ist ihnen sogar dankbar: Ohne sie wäre sie heute nicht so stark. Sie arbeitet wie Edith, die jetzt nur noch einen Traum hat: Köchin zu werden, in einem Restaurant natürlich.

(vatican news)

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19. April 2019, 11:33