Großes mediales Interesse vor dem Kinderschutzgipfel im Vatikan: Pressekonferenz am Montag Großes mediales Interesse vor dem Kinderschutzgipfel im Vatikan: Pressekonferenz am Montag 

Missbrauch: Den Opfern zuhören - und bei den Tätern genau hinsehen

Pater Stéphane Joulain, Afrika-Missionar und Psychotherapeut, erklärt im Interview mit Vatican News die Herausforderungen, die sich aus dem Phänomen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen innerhalb der katholischen Kirche ergeben.

Claudia Kaminski - Vatikanstadt

Das Treffen zum Schutz von Minderjährigen, das in dieser Woche von Donnerstag bis Sonntag im Vatikan stattfindet, weckt hohe Erwartungen an die katholische Kirche. Die beispiellose Versammlung fast aller Vorsitzenden der Bischofskonferenzen weltweit um Papst Franziskus soll ein wichtiger Schritt werden, um den Umgang mit Missbrauch zu klären.

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Bisher haben die Episkopate mit unterschiedlichem Tempo auf die Krise reagiert. Pater Stéphane Joulain, Mitglied der Gesellschaft der Afrika-Missionare, allgemein bekannt als die „Weißen Väter“, ist Psychotherapeut, der Opfer und Täter von Missbrauch begleitet hat. Seine Erfahrungen hat er in dem Buch „Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch“ 2018 veröffentlicht. 

„Pädophilie ist die exklusive Anziehungskraft zu präpubertären Kindern“

Pater Joulain erläutert die häufige Unklarheit der verwendeten Begriffe im Zusammenhang mit Missbrauch:

„Pädophilie ist ein Oberbegriff, der in vielen Bereichen verwendet wird. Er entspricht dem, was die Mediziner als ‚eine exklusive Anziehungskraft zu präpubertären Kindern' definieren. Klassisch gesehen ist das die Definition. Aber was auf dem Spiel steht, ist weiter gefasst, denn es geht um ‚missbräuchliches und aggressives Verhalten gegenüber Kindern‘, und das geschieht von Menschen, die nicht unbedingt Pädophile im klinischen Sinne sind. Es kann Missbräuche gegen etwas ältere Jugendliche geben, die bereits in der Pubertät sind; aber nicht jeder, der vorpubertäre Kinder missbraucht, ist notwendigerweise ein Pädophiler im engeren Sinne des Wortes...“

Die Mechanismen von Scham und Schweigen verstehen


Angesichts des dramatischen Ausmaßes der Krise betont Pater Joulain: „Die Kirche muss die Fähigkeit entwickeln, sich tief einzufühlen, um zu begreifen, wieviel es braucht, bis ein Opfer es endlich wagt, zu reden. Wir müssen diese Mechanismen verstehen, denn nur dann verstehen wir auch, dass es nicht leicht ist, sich frei zu äußern. Wir müssen die Mechanismen der Scham verstehen lernen, die Schändung, die dem Körper zugefügt wurde, das Schweigen, das auferlegt wurde, das Nicht-Hinhören.“ Zu oft hätten Überlebende von Missbrauchen, wenn sie vom Erlebten berichteten, zu hören bekommen: ‚Aber nein, du redest Unsinn‘ oder ‚Sag so etwas nicht‘.

Kirche muss zuhören lernen

Je älter das Opfer werde, desto mehr habe es dann auch zu verlieren: Image, Seriosität, Familiengründung stünden auf dem Spiel. Da werde es immer schwieriger, sich zu offenbaren. Es gehe nicht darum zu sagen, man hat mir 50 Euro gestohlen – es gehe um viel mehr, betont Pater Joulain in aller Deutlichkeit: „Ich wurde beschmutzt, mein Körper wurde verletzt, ich wurde nicht respektiert, ich befand mich in einer Situation der Machtlosigkeit, ich wurde nicht anerkannt... Und manchen gab der Täter die Schuld... Deshalb muss die Kirche wirklich mit Geduld in die Schule des Zuhörens gehen. Ein Zuhören, das sich ins Gleichgewicht mit dem ganzen Leiden des anderen bringt und sieht, was es dem Opfer abverlangt, zu reden. Wenn man sich dessen bewusst wird: Geduldig sitzen bleiben und dem Unaussprechlichen zuhören.“

„Missbrauchstäter haben den Glauben an Inkarnation in sich betäubt“

In der Anthropologie der Religionen ist die Inkarnation des Sohnes Gottes als Kind ein außergewöhnliches Phänomen. Daraus ließe sich für die katholische Kirche eine besondere Sendung ableiten, die Heiligkeit des Kindes zu fördern. Im Hinblick darauf sieht Pater Joulain eine geradezu revolutionäre Botschaft Jesu, der auf die Frage, wer der Größte im Reich Gottes sei, ein Kind in die Mitte der Jünger gestellt habe. Ein Kind habe in der damaligen jüdischen Gesellschaft keinen großen Wert gehabt und sei nicht als Person anerkannt worden.

„Jesus stellt sich dem entgegen und stellt ein Kind in die Mitte: ‚Das ist das Wichtigste im Reich Gottes, weh demjenigen, der ihm schadet‘. Und es ist eine der wenigen schrecklichen Warnungen Jesu, wenn er sagt: ‚Wer einen dieser Kleinen verletzt, der sollte besser mit einem Mühlstein um den Hals...‘ Worte Christi, die vor der Gefahr warnen, in der Hölle zu verbrennen, sind selten!“

Der Pater sieht sogar einen Verlust der Bedeutung der Inkarnation im christlichen Glaubensgefüge. In seiner Arbeit mit Missbrauchs-Tägern habe er festgestellt, dass sie diesen Teil in sich betäubt hätten, weil sie sonst diese Inkarnation im Kind sehen müssten: „Und indem wir die Person vor ihm als heilige Person, als Inkarnation Christi, wiederherstellen, können wir es schaffen, den Täter, der Christ ist, dazu zu bringen, zu sich selbst zu sagen: Was habe ich da getan?“

Wenn es in der Kirche gelänge, diesen Sinn für das Heilige des Menschen wiederzuentdecken, wäre ein großer Schritt getan. Die Heiligkeit des Menschen wiederherzustellen, ist für Pater Joulain grundlegend, gerade auch im Pontifikat von Papst Franziskus. Relativ wenig thematisiert werde der Umgang mit Tätern, mit ihrer sozialen Wiedereingliederung. Der Experte betont auch hier den notwendigen christlichen Umgang mit ihnen - und verweist zugleich auf verschiedene Risikosituationen.

Unterschiedliche Risikoszenarien bei Tätern

So gebe es Menschen mit starken pädophilen Impulsen, die strenge Aufsicht bräuchten, und andere, die nur einmal straffällig geworden seien. Für die Rehabilitation sei das Risiko ausschlaggebend, und in der klinischen Arbeit sei deutlich geworden, dass, je zufriedenstellender ihre Lebensbedingungen sind, desto geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie wieder straffällig werden.

Besonders problematisch sei die Stigmatisierung und damit einhergehende Ausgrenzung dieser Menschen. „Wir können in der Kirche nicht einfach sagen: Das ist nicht mehr unser Problem. Wir entlassen ihn aus dem Klerikerstand und werfen ihn raus, und dann ist es vorbei. Wir leisten niemandem einen Dienst, weder der Kirche noch der Gesellschaft. Dann würden wir unsere Hände waschen wie Pontius Pilatus.“

Man müsse fragen, ob es Orte, Gemeinschaften gebe, die bereit seien, diese Männer aufzunehmen, um ihnen Lebensräume zu geben. Aufgaben, die ihnen zugewiesen werden könnten, bei denen sie nicht mit Kindern in Kontakt kommen. Könnten sie je nach Alter noch Gottesdienste für die Kirche leisten? Man müsse kreativ sein und Lösungen finden, aber zum Schutz von Kindern keine Kompromisse eingehen, betont Joulain.

„Dass das Volk Gottes seine Hirten um Rechenschaft bittet, ist völlig vernünftig!“

Mit Blick auf den Kinderschutzgipfel betont der Psychotherapeut besonders den Begriff der „Verantwortlichkeit“: dem Volk Gottes gegenüber Rechenschaft abzulegen. Und so sei die bischöfliche Verantwortung in erster Linie eine Verantwortung, Situationen zu begleiten. „Menschen zu begleiten, Opfer zu begleiten... Ich denke, dass die Bischöfe immer mehr verstehen, dass sie nicht nur die Bischöfe der Priester sind, die missbraucht haben, sondern dass sie auch die Bischöfe derer sind, die missbraucht wurden. Dass die Opfer keine Feinde sind.“

„Dass das Volk Gottes seine Hirten um Rechenschaft bittet, ist völlig vernünftig! Es sind keine Schafe, die sich selig und ohne zu reagieren führen lassen. Sie sind bereit, dem Hirten zu folgen, aber ihr Hirt muss ihnen zeigen, dass es sich lohnt, ihnen zu folgen.“ Dazu müssten, so Joulain, Werke und Worte übereinstimmen. Das sei die eigentliche Herausforderung  - und nur zu diesem Preis werde das Vertrauen wiederhergestellt.

(vatican news)
 

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19. Februar 2019, 12:05