Erzbischof Gintaras Grusas von Vilnius, hier zu Besuch bei Papst Franziskus Erzbischof Gintaras Grusas von Vilnius, hier zu Besuch bei Papst Franziskus 

Litauen: „Kirche gilt als moralische Autorität“, sagt Erzbischof Grusas

Das kleine Litauen beweist, dass ein moderner, europafreundlicher EU-Staat im Osten zutiefst katholisch geprägt sein kann. Die Kirche ist eine anerkannte gesellschaftliche Größe in Litauen, darauf verweist der Erzbischof von Vilnius Gintaras Grusas.

„Ja, sehr, die Kirche wird bei uns anerkannt als die benötigte moralische Autorität“, sagte der in den USA als Exil-Litauer aufgewachsene Kirchenmann im Gespräch mit Renovabis. „Und doch: wir sind in einem demokratischen System, das immer mehr säkularisiert ist wie der Rest Europas und der Welt auch, und so sind wir heute manchmal auch die Stimme des Dissens. Denn die Kirche hält fest an den fundamentalen moralischen Werten. Aber sie wird anerkannt und respektiert.“

Zum Nachhören

Sehr vereinzelt gebe es Stimmen, die – im Stil des Kommunismus – eine Trennung von Kirche und Staat wollen, referiert der Erzbischof. „Wir erinnern dann immer daran, dass die Kirche und der Staat von den gleichen Individuen gemacht wird und man kann sie nicht trennen. Katholiken sind auch Bürger und Wähler. Die Kirche wird also immer ihren Einfluss haben, nicht unbedingt durch die Hierarchie, aber zumindest über die Wahlakte der Gläubigen.“

1990 erlangte Litauen seine Unabhängigkeit von der zerbröckelnden Sowjetunion, in der die Kirche in den Untergrund verbannt war und ihre Märtyrer hervorbrachte. Doch die kommunistischen Herrscher konnten den Glauben nicht ausmerzen. Knapp 80 Prozent der Menschen in Litauen bekennen sich heute zur katholischen Kirche. Das ist innerhalb Europas nach Polen die zweithöchste Katholikenrate.

„Es braucht erfahrungsgemäß zwei Generationen, um das Denken von Menschen zu verändern, die in der Okkupation oder in der Sklaverei aufgewachsen sind, damit sie wirklich verstehen, was die Tiefe der Freiheit ist.“

„Die Zahl der Getauften ist hoch, gerade vor dem Hintergrund, dass die Kirche 50 Jahre lang verfolgt wurde“, hebt Grusas hervor. „Aber diese Verfolgung hat an den Menschen genagt, an ihrem Glauben und ihrer Glaubenspraxis.“ Was das heißt, wurde bald klar. „Gleich nachdem wir hier wieder Religion unterrichten durften, fiel uns auf, dass die jungen oder mittelalten Eltern dieser Kinder überhaupt keine religiöse Bildung hatten. Viele Eltern kamen dann regelmäßig mit in die Katechese-Klassen, damit sie die Fragen ihrer Kinder verstehen konnten. Auf der anderen Seite haben wir in den 25 Jahren auch an der religiösen Literatur in litauischer Sprache arbeiten müssen, denn es gab ja nicht viel in der Sowjetzeit. Die Bildung von Erwachsenen und ihre Praxis braucht Zeit, 25 Jahre ist nicht genug Zeit.“ Der Einsatz für Glaubenswissen und Glaubenspraxis sei heute eine andauernde Bemühung, sagt Grusas. Er vergleicht es mit den 40 Jahren in der Wüste für das Volk Israel. „Es braucht erfahrungsgemäß rund zwei Generationen, um das Denken von Menschen zu verändern, die in der Okkupation oder in der Sklaverei aufgewachsen sind, damit sie wirklich verstehen, was die Tiefe der Freiheit ist.“

Kirche entwickelt sich weiter

 

Und die Kirche entwickelt sich weiter in Litauen, versichert der Erzbischof. Die Rolle der Laien wird stärker. „Das ist eine Frage der Mentalität, die sich über die Zeit entwickelt. Die Zeitmarke ist das Konzil. Wenn eine US-Gemeinde in den 60er- und 70er Jahren sich veränderte und Pfarrgemeinderäte einführte, so hat es in Litauen in kleinen Schritten in den späten 80er Jahren begonnen. Das Messbuch musste übersetzt werden, die Altäre wurden liturgisch herumgedreht; das begann noch zu Sowjet-Zeiten, und da wurde Druck auf Gläubige ausgeübt. Heute beginnt sich die Rolle der Laien in den Pfarreien zu ändern, in den letzten 25 Jahren. Unsere Familien- und Jugendzentren helfen bei diesem Prozess, und man sieht mehr und mehr aktive Laien.“

„Der Heilige Vater kommt nicht wegen der Daten, sondern wegen der Menschen“

Der Blick auf das ganze Volk Gottes ist auch dem Papst aus Lateinamerika ein Anliegen. Franziskus kommt in ein Land im Wandel, ein Land mit Schwierigkeiten - Abwanderung, Alkoholismus, eine gefühlte Bedrohung durch Nachbarstaaten, um nur einige zu nennen -, ein Land aber auch mit vielen Chancen. Äußerer Anlass sind zwei Unabhängigkeitsdaten: 100 Jahre Unabhängigkeit von Russland und 25 Jahre Unabhängigkeit von der Sowjetunion.

„Der Heilige Vater kommt nicht wegen der Daten, sondern wegen der Menschen“, rückt Grusas zurecht: „Er geht zu den Ländern, die in Schwierigkeiten sind, die sein Wort brauchen. Aber er besucht auch die Peripherie. Und wir sind die Peripherie Europas. Wir sind in einer heißen geopolitischen Lage, leben in Spannungen mit einigen Nachbarländern, wir haben eine Grenze mit Weißrussland und mit Russland. Der Heilige Vater kommt immer mit einer Botschaft des Friedens, egal wo er hingeht. Wir hoffen also auf seine Gebete und seine Worte, die den Frieden erhalten werden in unserer Region.“

„Symbolisch und als Nation haben wir mit dem Besuch von Johannes Paul II. vor 25 Jahren unseren ersten tiefen Atemzug von Unabhängigkeit erfahren“

Im Audio dieses Beitrags unschwer zu erkennen: Der Erzbischof der Hauptstadt Litauens spricht hervorragendes Englisch – es ist seine zweite Muttersprache. Grusas ist 1961 in Washington geboren, er studierte Mathematik in Los Angeles, arbeitete fünf Jahre für den Konzern IBM. Das half ihm, ein effizienter Verwalter zu werden, wie er selber sagte. Nach der Priesterweihe und einem Kirchenrechts-Studium in Rom ging Grusas in seine Heimat Litauen. Dort organisierte er als junger Priester mit 32 Jahren den ersten Papstbesuch in seinem Land: Johannes Paul II. kam 1993 nach Litauen. Eine unvergesslich große Erfahrung für die Nation.

„Als Land waren wir gerade erst herausgekommen aus der Okkupation der Kommunisten: die letzten sowjetischen Militärs verließen Litauen genau vier Tage, bevor damals der Papst eintraf. Symbolisch und als Nation haben wir also mit diesem Papstbesuch vor 25 Jahren unseren ersten tiefen Atemzug von Unabhängigkeit erfahren. Damit begann eine lange Zeit des Wiederaufbaus. Johannes Pauls Worte waren extrem erhebend und zugleich prophetisch. Seine Reden wiesen uns den Weg, er sprach davon, wie man eine postkommunistische Gesellschaft aufbaut, und manches ist heute sogar noch aktueller als vor 25 Jahren. Er sprach über Neuevangelisierung, Familie, Jugend, die Rolle des Priesters in der Gesellschaft - und das ist ja alles aktuell.“

(vatican news – gs)

 

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21. September 2018, 08:18