40 Jahre Hilfe für Kinder-Prostituierte

Sie wollte Professorin werden – jetzt gibt sie jungen Prostituierten eine Unterkunft. Die Amerikanerin Lois Lee ist eine erstaunliche Frau. „Children of the Night“ heißt der Hilfsverband, den sie gegründet hat. Kinder der Nacht.

Stefan von Kempis und Schwester Bernadette Reis – Vatikanstadt

„Das war nicht so geplant“, sagt sie bei einem Besuch in der Redaktion von Vatican News. „Ich war Doktorandin an der UCLA, der Universität von Kalifornien, und sammelte mit einem Team statistische Daten über die Kunden von Prostituierten. Da traf ich zwei Anwältinnen, die mir sagten: Eigentlich müsste man die Polizei von Los Angeles dafür verklagen, dass sie die Kunden von Prostituierten nicht verhaftet. Mir schien das eine gute Idee. Ich versuchte also, einige Prostituierte dazu zu bringen, meinem Team Fragen zu beantworten. Darum fuhr ich mit meinem roten Sportwagen zum Hollywood Boulevard und sprach einige Prostituierte an – so begann die Beziehung.“

Hillside-Opfer Nummer 1

 

Lois Lee wunderte sich: In den Polizeiberichten wurde das Alter sämtlicher Prostituierten, die irgendwann einmal kontrolliert oder verhaftet wurden, mit 10 Jahren angegeben. War das möglich? Später riefen einige Prostituierte bei ihr zu Hause an, weil eines der Mädchen tot aufgefunden worden war und die Polizei ihre Aussagen dazu nicht aufnehmen wollte. Die Tote war für die Zeitungen damals „Hillside-Opfer Nummer 1“.

Zum Nachhören

„Ich wollte damals aber Professorin sein, ein dickes Auto fahren und die Sommerferien in Europa verbringen… Und ich beschloss, mein Forschungsprojekt zur Prostitution aufzugeben. Da rief mich Ende 1977 die Leiterin einer Escort-Agentur an und sagte: Eines meiner Mädchen ist vom Kunden nicht mehr zurückgekommen, und ich kann sie nicht erreichen… Ich rief also die Polizei an und verbrachte Stunden am Telefon, aber keiner hörte mir richtig zu. Da bin ich eben zur nächsten Polizeistation gegangen. Meine Mitbewohnerin hat noch gefragt, ob sie mitkommen soll, aber ich habe ihr geantwortet: Nein, das brauchst du nicht, die Polizei wird sich schon darum kümmern. Aber dann sagte man mir auf der Polizeistation: Wir werden deswegen keinen Wagen rausschicken, das Mädchen war doch nur eine Hure.“

Rufen Sie nicht die Polizei an, sondern mich!

 

Am nächsten Tag stand in den Zeitungen, dass das vermisste Mädchen ermordet worden war: „Hillside-Opfer Nummer 11“. Sie war 17 Jahre alt gewesen, das sagte ihr der zuständige Sheriff.

„Da war ich sehr verärgert. Ich habe mich an die Medien gewandt und in den Nachrichten gesagt: Wenn Sie irgendetwas mit dem Prostitutions-Business zu tun haben und zu wissen glauben, wer der Hillside-Mörder ist, dann rufen Sie nicht die Polizei an, sondern mich! Und ich gab meine private Telefonnummer an. Da bekam ich sofort Reaktionen aus den ganzen USA, und zwar auch von den Hintermännern der Sex-Industrie. Die sagten mir: Da sind überall Kinder im Geschäft; Sie ahnen gar nicht, wie viele… Dabei wollen wir das gar nicht, wir wollen im legalen Bereich bleiben und nicht für so etwas ins Gefängnis gehen. Reden Sie doch mal mit diesen Kindern.“

Die Eltern wollten sie nicht...

 

Das tat sie dann auch. „Ich rief auch ihre Eltern an – die wollten ihre Kinder nicht. Sozialdienste wollten sich auch nicht um sie kümmern, weil Prostitution ein Verbrechen war. Dann habe ich mich an die Gerichte gewandt, aber die wollten die Mädchen in keine Programme aufnehmen, weil die keine Eigentumsverbrechen begangen hatten und das eine Verschwendung von Steuergeldern wäre. Da habe ich gesagt: Okay, dann bleibt ihr eben bei mir! Und dann habe ich im Lauf der nächsten drei Jahre insgesamt mehr als 250 Kinder in meiner Wohnung beherbergt.“

„Kids“, sagt Lois Lee immer. Kinder. Sie meint Heranwachsende, 16-, 17-Jährige. Übrigens - den Hillside-Mörder hat man dann auch gefunden, sie bekam telefonisch einen Tipp, der zu seiner Verhaftung führte.

Ich habe nicht mehr zurückgeschaut

 

„Und ich erinnere mich – in einer Nacht hatte ich gerade elf Kinder in meiner Wohnung, auf dem Flur, im Wohnzimmer. Da lag ich im Bett und fing an zu weinen und sagte zu mir: Mein Gott – warum tue ich nicht einfach, was ich wirklich tun sollte… Und am nächsten Morgen bin ich aufgestanden und habe nicht mehr zurückgeschaut. Und das habe ich dann mit dem Rest meines Lebens so gehalten.“

Nicht mehr zurückschauen heißt in diesem Fall: Abschied nehmen von der angepeilten Karriere. Keinen dicken Wagen mehr, und auch nicht mehr so oft nach Europa zum Chillen.

Ohne Geburtsurkunde geht gar nichts

 

„Ich habe damals eine Hotline eingerichtet, von zuhause aus, und bekam sofort fast dreihundert Anrufe täglich aus den ganzen USA. Dann lief ein kurzer Fernseh-Beitrag über mich, und daraufhin riefen mich Mitarbeiter der damaligen Reagan-Regierung an und sagten: Wir werden Sie unterstützen, Sie werden Geld von uns bekommen, so dass Sie das Programm nicht mehr in Ihrem Privathaus durchführen müssen. Wir fanden ein geeignetes Haus, da brachten wir jedes Jahr 1.500 Kinder unter. Da gab es Duschen, etwas zum Anziehen; wir halfen beim Beschaffen von Geburtsurkunden, weil man damit einen Ausweis bekommt, und den braucht man, um eine Versicherungskarte zu bekommen, und die braucht man, um einen Job zu bekommen und Gesundheitsleistungen. Wir trafen Absprachen mit Kinderkrankenhäusern, wir hatten ein Straßen-Team, um sich um die Kinder da, wo sie sich prostituierten, zu kümmern – denn nicht alle von ihnen wollten zu uns in die Einrichtung kommen.“

1992 wurde ein langgehegter Traum wahr: eine richtige Unterkunft, „shelter“, mit 24 Betten. Und sogar einer angeschlossenen Schule, die privat betrieben wurde und bis Ende letzten Jahres aktiv war. Zu den 150 Freiwilligen gehörten Erzieher, Therapeuten, Psychiater, Friseure, Anwälte, Zahnärzte – sogar Spezialisten für Schönheitsoperationen. Die wurden dazu gebraucht, Tätowierungen zu entfernen.

Keine ungebrochene Erfolgsgeschichte

 

Aber das alles ist keine ungebrochene Erfolgsgeschichte. Es gab und gibt viele Schwierigkeiten. „Unser Straßenprogramm endete, weil die Gangster die Straßen übernommen haben“, berichtet Frau Lee. Dafür gelang sogar ein Ausgriff ins Internationale: „Children of the Night“ hilft jetzt auch in der Dominikanischen Republik, in Thailand, Vietnam, Kambodscha, auf den Philippinen, in Indien und Nepal, in Ghana. Lee hat ein Online-Lernprogramm entwickelt, damit können Kinderprostituierte von ihrem Handy aus sozusagen die Schule besuchen.

Etwa 10.000 Kinder und Jugendliche konnte „Children of the Night“ bisher in den USA aus der Prostitution befreien, sagt Lois Lee. Dass Papst Franziskus sich das Thema immer wieder zu eigen macht, freut sie. „Ich halte seine Leadership für wichtig; es geht darum, viele Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Wieweit das gelingt, muss man allerdings noch sehen. Es geht darum, die Leute aus ihrem Sessel zu holen…“

(vatican news)
 

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16. Juli 2018, 10:43