Mossul am 2. Juli des letzten Jahres - heute sieht es stellenweise immer noch so aus Mossul am 2. Juli des letzten Jahres - heute sieht es stellenweise immer noch so aus 

Irak: Düstere Aussichten für das „befreite“ Mossul

Vor genau einem Jahr erklärte der irakische Ministerpräsident offiziell den Sieg über die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ in Mossul. Drei Jahre hatte der IS über die Millionenmetropole geherrscht, jetzt versucht sie eine Art Normalität wiederzufinden.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

Aber was heißt schon: Mossul. Als wäre das eine einzige Stadt. Nein, es sind im Moment zwei Städte, zwei ganz verschiedene, sagt uns der Dominikaner Michaeel Najeeb, der aus Mossul kommt und von Erbil aus immer wieder dorthin pendelt.

„Auf dem linken Ufer (des Tigris) sind nur einige historische und archäologische Stätten zerstört worden, etwa ein früheres nestorianisches Kloster, aus dem dann eine Moschee geworden war. Aber davon abgesehen ist diese Stadt völlig intakt, und das Leben geht wieder fast seinen alten, normalen Gang.“

Eine Totenstadt, wie im Kosovo - alles zerstört

 

Aber das gilt nur für die „rive gauche“, das westliche Ufer des Tigris, das von Kämpfen bei der Befreiung Mossuls weitestgehend verschont geblieben war. Hier pulst das Leben auf den Märkten, in den Geschäften. Auf dem rechten Ufer liegt das andere Mossul, die Altstadt. „Das ist fast eine Totenstadt, es sieht aus wie im Kosovo. Alles zerstört. Da findet man kaum ein Haus, das noch aufrecht stünde.“

Die Altstadt war Schauplatz heftiger Straßenkämpfe zwischen der Armee und den Dschihadisten gewesen, aus der Luft hatten Flugzeuge einer internationalen Koalition Bomben abgeworfen.

Die Islamisten haben sich lediglich den Bart abrasiert

 

Den stärksten Schaden aber hat die Terrorgruppe und haben die Kämpfe in den Köpfen der Menschen in Mossul hinterlassen, sagt der Dominikaner. „Es gibt in Mossul immer noch Menschen, die der Ideologie des ‚Islamischen Staats‘ anhängen, die immer noch so denken. Jeder weiß, dass die immer noch mit dem IS zusammenarbeiten, sie kleiden sich jetzt nur anders. Die haben sich den Bart abrasiert, aber in ihren Köpfen sieht es immer noch genauso aus.“

Zum Nachhören

Die anderen Einwohner von Mossul stünden immer noch unter Schock. „Sie haben angefangen, wieder ein bisschen Atem zu schöpfen und den Mund aufzumachen. Sie sagen: Wir haben es satt. Wenn man ihnen Koranverse zitiert, sagen sie: Aber das muss man doch in seinem früheren Kontext verstehen, nicht so wörtlich, wie der ‚Islamische Staat‘ es verstanden hat. Man kann das nicht heute anwenden oder anderen auferlegen… Viele Muslime fangen also an, sich von diesem fanatischen Geist freizumachen und von den Menschenrechten, dem Recht auf eigenes Denken zu sprechen – auch dem Recht darauf, sich seine Religion selbst auszusuchen.“

Die Menschen wollen sich vom Albtraum befreien

 

Er habe einige Muslime kennengelernt, die ihm gesagt hätten: ‚Wir fangen jetzt damit an, Alkohol zu trinken!‘ Dabei seien die Alkoholpreise deutlich nach oben geklettert. Aber die Menschen wollten sich eben „von diesem Albtraum befreien, den sei drei Jahre hindurch erlebt haben“.

„Ich bin ja in Mossul geboren und kenne ein bisschen die Mentalität: Da passiert jetzt dasselbe wie damals beim amerikanischen Einmarsch und dem Sturz von Saddam (Hussein). Etwa ein Jahr lang halten sich die Leute bedeckt und sind mit Äußerungen vorsichtig, solange sie nicht das Terrain sondiert und herausgefunden haben, wo ihre Gesprächspartner politisch stehen. Die Menschen in Mossul haben im Moment noch Angst, sie sind vorsichtig. Sie sagen: Der IS ist ja untergründig immer noch da und wartet; er hat sich unsichtbar gemacht, aber er wartet auf den Moment, zurückzukehren. Es gibt Kinder in Mossul, die weinen immer noch dem ‚Islamischen Staat‘ hinterher – die haben eine Gehirnwäsche durchgemacht.“

Die Islamisten werden wiederkommen, wenn keiner aufpasst

 

Etwa 30.000 Kinder seien von den Terroristen in Mossul indoktriniert worden, sagt Michaeel Najeeb; diesen Kindern müsste man heute dringend eine gute Schulbildung bieten, um aus dem Labyrinth in ihren Köpfen herauszufinden. „Und wenn es keine Kraft geben sollte, die vor Ort in Mossul ein bisschen die Lage kontrolliert, wird der ‚Islamische Staat‘ unter einem anderen Namen wiederkommen…“

Als die Terroristen 2014 Mossul überrannten und praktisch ohne Gegenwehr einnehmen konnten, flohen Hunderttausende von Christen aus der Region. Viele Kirchenleute hoffen, dass diese Christen jetzt bald zurückkehren und sich an den Wiederaufbau des Irak und der Kirche im Irak machen. Aber sieht man schon Christen, die mit Sack und Pack zurück nach Mossul kommen?

Rückkehr von Christen? Natürlich nicht

 

„Natürlich nicht! Und zwar aus zwei Gründen. Der größte Teil – etwa 95 Prozent – der Gebäude und damit auch der Kirchen auf dem rechten Tigrisufer sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Stellen Sie sich vor: Ich habe noch nicht einmal die Straße wiedererkannt, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin! Ich habe mein Haus nicht wiedergefunden, es ist verschwunden. Glauben Sie mir – hätte der Turm meiner alten Pfarrkirche, der Dominikanerkirche im Zentrum, nicht noch gestanden, ich hätte keinen blassen Schimmer gehabt, wo ich gerade war. Alles ist dem Erdboden gleichgemacht.“

Und der zweite Grund? Ganz einfach, sagt Michaeel Najeeb: Das Vertrauen sei weg. „Nach der letzten Statistik sind gerade einmal zwanzig (christliche) Familien wiedergekommen. Es wurde eine Messe am Tag des hl. Thomas gefeiert, des Apostels Mesopotamiens – dazu kamen ein Bischof und vier oder fünf Priester in die syrisch-katholische Thomaskirche, und fünfzig bis sechzig Gläubige. Das gibt einem, wenn man das sieht, ein bisschen Hoffnung – aber andererseits ist das Vertrauen weg. Und um das zu ändern, braucht es Zeit. Fünf, sechs Jahre, schätze ich mal.“

Sind die Christen etwa freiwillig gegangen? Natürlich nicht

 

Mit Bitterkeit spricht der Dominikaner vom Verschwinden des Christentums am Tigris. „Noch unter Saddam war zum Beispiel Tikrit - die Stadt, in der er geboren wurde - zu großer Mehrheit christlich; davon ist jetzt keine Rede mehr. In Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak, waren im 18. Jahrhundert sechzig Prozent der Bevölkerung Christen. Heute? Null. Sind diese Christen freiwillig gegangen? Natürlich nicht. Sie wurden gezwungen und eingeschüchtert und vertrieben. In Mossul, der Stadt des Propheten Jonas, ist zweitausend Jahre lang ohne Unterlass christlich gebetet worden – bis der ‚Islamische Staat‘ kam. Dem ist gelungen, was noch nicht einmal Dschingis Khan oder die Perser bei ihren Eroberungen der Stadt geschafft haben. Die Christen in Mossul haben heute Angst, zur Messe zu gehen, und man kann sie verstehen.“

„Man soll nicht mit dem Feuer spielen…“

Auch Pater Najeeb glaubt nicht, dass er jemals wieder stabil nach Mossul übersiedeln wird. „Niemals. Einfach weil die Kirchen fast alle völlig zerstört sind. Und ich habe es nur unter Mühen geschafft, zahlreiche kirchliche Archive und Dokumente aus dem 12., 13. Jahrhundert zu retten. Man hat sie erst nach Karakosh und dann nach Erbil gebracht – ich will sie jetzt nicht wieder der Gefahr aussetzen, die von diesen Fanatikern ausgeht, die jeden Moment wieder Oberwasser in Mossul bekommen können. Man soll nicht mit dem Feuer spielen…“

Das klingt so, als ob der Dominikaner damit rechnet, dass der islamische Extremismus eher heute als morgen wieder sein Haupt in Mossul erhebt. Keine guten Aussichten für die Christen.

(vatican news)
 

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09. Juli 2018, 11:32