Die in Erfurt lehrende Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens gehört der Päpstlichen Kinderschutzkommission an Die in Erfurt lehrende Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens gehört der Päpstlichen Kinderschutzkommission an 

Umgang mit Missbrauch: Vertraulich oder transparent?

Kinderschutz in der Kirche ist eine Priorität, die so rasch nicht mehr verschwinden wird. Vor zwei Jahren berief Papst Franziskus einen Krisengipfel im Vatikan ein. Und vor gut einem Jahr tagte in Rom ein Seminar der Päpstlichen Kinderschutzkommission, dessen Ergebnisse nun vorliegen. Darüber sprachen wir mit der in Erfurt lehrenden Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens.

Gudrun Sailer – Vatikanstadt

Frage: Frau Professor Wijlens, „Förderung und Schutz der Würde von Personen bei Missbrauchsvorwürfen gegen Minderjährige und schutzbedürftige Erwachsene: Balancieren zwischen Vertraulichkeit, Transparenz und Verantwortlichkeit“ – so hieß das Seminar der päpstlichen Kinderschutzkommission vom Dezember 2019. Aus welchem Anlass fand es statt?

Myriam Wijlens: Das Jahr 2001 markiert den Punkt, an dem die Führung der römisch-katholischen Kirche begann, einem wachsenden Bewusstsein Ausdruck zu verleihen, dass das Thema Missbrauch von Minderjährigen einen radikal anderen Ansatz benötigt. Es markierte eine Änderung der Haltung und der Perspektive: Nicht der Schutz des Ansehens der Kirche, sondern das Wohlergehen und der Schutz von Minderjährigen muss das vorrangige Interesse sein. Die Kirche soll ein sicherer Ort sein, an dem sich alle aufhalten können. Die Würde der menschlichen Person darf nicht angetastet werden. Wenn wir auf die vergangenen 20 Jahre zurückblicken, können wir feststellen, dass es nicht nur ein Lernprozess war, sondern dass es ein ständiger Lernprozess für alle Beteiligten war. Er erfordert sorgfältige Überlegungen und damit einen Austausch von Fachwissen und Gedanken.

Hier unser Interview mit Prof. Myriam Wijlens als Podcast:

Die Päpstliche Kommission für den Schutz von Minderjährigen hat eine Arbeitsgruppe „Leitlinien und Normen". Nachdem die Arbeitsgruppe die Arbeit verschiedenen Dikasterien des Heiligen Stuhls, die Konferenz von Papst Franziskus mit den Vorsitzenden der Bischofskonferenzen aus aller Welt im Februar 2019 und die Berichte aus verschiedenen Ländern aufmerksam verfolgt hatte, schlug sie vor, gemeinsam mit der Arbeitsgruppe „Erziehung und Bildung" ein Seminar zum Thema „Balance zwischen Vertraulichkeit, Transparenz und Rechenschaftspflicht" einzuberufen. Bei dem Seminar ging es also um ein angemessenes „Gleichgewicht" dieser drei Aspekte im Hinblick auf die Opfer/Überlebenden und ihre Angehörigen, die Beschuldigten, die spezifische Gemeinschaft, in der der Missbrauch stattgefunden hat, und die weitere Gemeinschaft, sowohl die kirchliche als auch die weltliche. Das Schlüsselelement, um dieses Gleichgewicht zu finden, liegt im Schutz und der Förderung der Würde jeder menschlichen Person. Das Seminar behandelte zwei Hauptthemen: das Sakrament der Versöhnung einschließlich des Beichtgeheimnisses und die Transparenz und Rechenschaftspflicht in Verfahrensfragen.

Was war der Zweck des Seminars, und wer hat alles teilgenommen?

Myriam Wijlens: Das dreitägige Seminar hatte einen moderaten Zweck: die Fragen zu klären und zu schärfen, die Bereiche und Themen zu identifizieren, die weiterer Forschung bedürfen, und mögliche Wege und Schritte vorzuschlagen, um darauf zu antworten. Wir wollten die Themen besser verstehen und deswegen voneinander hören und lernen sowie sie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Die Teilnahme von Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen erwies sich als äußerst bereichernd.

„Unter den 37 Teilnehmenden waren Führungskräfte und Mitarbeitende der römischen Kurie“

Unter den 37 Teilnehmenden waren Führungskräfte und Mitarbeitende der römischen Kurie, Fachleute mit Spezialisierung in Psychiatrie, internationalem Recht, Kinderrechten und Moraltheologie sowie im Kirchenrecht sowohl der lateinischen als auch der Ostkirchen. Auch die Stimmen der Ortskirchen waren zu hören: Bischöfe, sowie Ziviljuristen und Kanonisten [MW1] aus den Diözesen waren anwesend. Vier Frauen mit Expertise in Sachen Kindesmissbrauch nahmen teil. Unter den Referenten waren z.B. Kardinal Luis Ladaria SJ, Erzbischof Charles Scicluna, die Professoren Damián G. Astigueta SJ, Giacomo Incittti, Vimal Tirimanna CSsR und John Beal. Neun Präsentationen des Seminars sind nun in Englisch, Italienisch und Spanisch veröffentlicht

Sie erwähnten das Sakrament der Versöhnung und das Beichtgeheimnis. Was genau hat es damit auf sich?

Myriam Wijlens: Das Sakrament der Versöhnung ist von größter Bedeutung für das geistliche Leben der Gläubigen. Die Pönitenten müssen die Gewissheit haben, dass ihre gebeichteten Sünden nicht an Dritte weitergegeben werden. Es gibt aber auch die Sorge, dass Kinder, die sexuell missbraucht werden, die nötige Hilfe bekommen und dass weiterer Missbrauch verhindert wird. Wegen der Sicherheit der Kinder haben einige Länder eine Meldepflicht an die staatlichen Behörden eingeführt, wobei das Beichtgeheimnis nicht mehr respektiert wird. Oft haben die Staaten nicht die Kleriker als Täter im Blick, sondern ein Szenario, das häusliche Gewalt und Missbrauch betrifft.

Frage: Wie steht die Kirche dazu?

Myriam Wijlens: Die Kirche erkennt ebenso wie die Staaten die hohe Relevanz der Sicherheit von Kindern an, besteht aber gleichzeitig auf der Achtung des Beichtgeheimnisses aufgrund ihres theologischen Verständnisses des Sakraments und der daraus resultierenden Notwendigkeit, den Pönitenten absolute Vertraulichkeit zu sichern und zu garantieren. Unser Seminar hat die Unantastbarkeit des Beichtgeheimnisses klar bestätigt. Es muss zu jeder Zeit geschützt werden. Dennoch stellen sich einige Fragen.

„Welche Möglichkeiten haben Beichtväter, Opfern und Tätern zu helfen, Hilfe zu finden und dabei das Beichtgeheimnis zu respektieren?“

Frage: Zum Beispiel?

Myriam Wijlens: Zum Beispiel: Wann ist ein Gespräch zwischen einem Priester und einer Person eine Beichte und nicht nur z.B. eine Angelegenheit der geistlichen Führung? Wie wichtig ist es, dass im Sprachgebrauch vom Beichtgeheimnis die Rede ist und nicht vom Siegel des Beichtstuhls, also des Ortes, an dem die Beichte stattfindet? Was wird eigentlich durch das Beichtgeheimnis abgedeckt? Fallen Sünden, die von einem Dritten begangen, aber von jemand anderem berichtet wurden, unter das Beichtgeheimnis? Ein Bekenntnis erfordert wahre Reue: Wie kann ein Beichtvater dies feststellen? Ist es theologisch möglich, in bestimmten Fällen die Absolution zu verweigern? Welche Möglichkeiten haben Beichtväter, Opfern und Tätern zu helfen, Hilfe zu finden und dabei das Beichtgeheimnis zu respektieren? Welche Ausbildung bräuchten Beichtväter in dieser Hinsicht? In unserem Seminar beschäftigten wir uns mit den historischen, theologischen und kanonischen Aspekten, um die Integrität des Beichtgeheimnisses zu respektieren, aber auch um Klarheit in seiner Bedeutung und praktischen Anwendung zu schaffen.

Frage: Das Seminar befasste sich auch mit Rechenschaftspflicht und Transparenz. Was genau haben Sie da besprochen?

Myriam Wijlens: Eine wichtige Frage bei der Sicherstellung von Gerechtigkeit betrifft das Recht auf Information für Opfer/Überlebende, Angeklagte und die Gemeinschaft als solche. Wir haben das sogenannte Päpstliche Geheimnis angesprochen. Wenige Tage nach dem Seminar hat Papst Franziskus diesbezüglich bereits einige hilfreiche Änderungen vorgenommen, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit staatlichen Behörden.

Wir fragten, was bedeuten die Begriffe Vertraulichkeit, Transparenz und Rechenschaftspflicht und wie verhalten sie sich zueinander? Was bedeutet Transparenz im Sinne von „öffentlich machen" oder „Auskunft geben"? Und dann: Wem gegenüber sollten welche Informationen öffentlich gemacht werden? Was bedeutet Rechenschaftspflicht, nicht nur in Bezug auf diejenigen, die missbraucht haben oder auf Meldungen von Missbrauch reagiert haben, sondern auch innerhalb des Strafprozesses selbst? Welche Bedeutung hat es für die Gemeinschaft, informiert zu werden, und wie trägt eine angemessene Information zu einem Empfinden der Gerechtigkeit und sogar zur Prävention von Missbrauch bei?

„Alle haben ein Recht, ihre Rechte zu verteidigen und einzufordern“

Das Seminar war sich bewusst, dass verschiedene Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen sind: Alle haben ein Recht, ihre Rechte zu verteidigen und einzufordern. Das wiederum impliziert, dass die Kirche eine Verpflichtung hat, dass diese Rechte durch gute Verfahren und solide Argumentationen wahrgenommen werden können, die faire Prozesse garantieren, die zur Rechtspflege führen. Letzteres ist nicht nur für das Opfer und den Angeklagten wichtig, sondern auch für die gesamte Gemeinschaft. Sie soll wissen, dass Menschen für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden, dass die Entscheidung gut argumentiert ist und dass der Ausgang eines Verfahrens tatsächlich Gerechtigkeit darstellt, die auch Fairness widerspiegelt. Dies ist jedoch leichter gesagt als getan.

Frage: Warum ist das leichter gesagt als getan?

Myriam Wijlens: Wir müssen uns daran erinnern: Opfer haben ein Recht auf Privatsphäre und Vertraulichkeit. Das ist wichtig, sonst werden sie sich nicht melden oder ein zweites Mal zum Opfer werden. Alle müssen wissen, dass „die Betroffenen" Zugang zu relevanten Informationen haben. Aber wer genau sind „die Betroffenen"? Dies betrifft vor allem die Opfer, die nach dem derzeitigen Gesetz kaum Informationen über das Verfahren erhalten. Das Seminar beschäftigte sich deswegen mit der Frage: Welche Rechte und Pflichten haben Opfer und wie kann man sich die Ausübung ihrer Rechte im Strafverfahren vorstellen? Welche möglichen Änderungen im Strafverfahren scheinen notwendig zu sein? Was kann, ja was muss verbessert werden? Diese Fragen erhalten besondere Relevanz, wenn Missbrauch als Verletzung der Würde einer Person verstanden wird.

Frage: Welche Rechte haben die Angeklagten?

Myriam Wijlens: Wir haben uns auch um die Angeklagten gekümmert, die eine gute und sichere Möglichkeit haben müssen, ihr Recht und ihren Ruf zu verteidigen. Das erfordert nicht nur, dass man einen Anwalt hat, sondern auch, dass die Anwälte Zugang zur Rechtsprechung haben - und das ist derzeit nicht gegeben. Alle müssen das Vertrauen haben, dass es in der Rechtsprechung Fairness gibt: Ähnliche Fälle werden auf ähnliche Weise beurteilt und führen zu ähnlichen Strafen. Wie kann also die Rechtsprechung zugänglich gemacht werden, während gleichzeitig der Schutz der Privatsphäre der Betroffenen respektiert wird? Wie schafft man hier ein Gleichgewicht zwischen Vertraulichkeit und Transparenz? Das Seminar fragte: Was kann die Kirche von Richtern und Richterinnen lernen, die in Strafprozessen vor staatlichen Gerichten vor ähnlichen Herausforderungen stehen?

 

Frage: Was war aus Ihrer Sicht das beste Ergebnis des Seminars?

Myriam Wijlens: Der Zweck des Seminars war nicht, endgültige Antworten zu geben. Vielmehr ging es darum, die Fragen zu klären und zu schärfen, die Bereiche und Themen zu identifizieren, die weiterer Forschung bedürfen, und mögliche Wege und Schritte vorzuschlagen, um sie zu beantworten, zum Beispiel durch Empfehlungen für weitere Forschung.

Wie bereits erwähnt, hat Papst Franziskus unmittelbar nach dem Seminar Änderungen in Bezug auf das Päpstliche Geheimnis vorgenommen.

„Das Seminar bestätigte die Unantastbarkeit des Beichtgeheimnisses, aber es wuchs das Bewusstsein, dass es eine bessere und kontinuierliche Ausbildung der Beichtväter braucht“

Das Seminar bestätigte die Unantastbarkeit des Beichtgeheimnisses, aber es wuchs das Bewusstsein, dass es eine bessere und kontinuierliche Ausbildung der Beichtväter braucht, z.B. im Hinblick auf die Unterscheidung von Forum internum und externum, wie sie Opfer mit Informationen versehen können, wo und wie die Opfer Hilfe und Heilung bekommen können. Eine solche Ausbildung wäre auch von Relevanz für den gesamten Bereich des geistlichen Missbrauchs.

Es besteht die Notwendigkeit, die Abwägung zwischen Transparenz und Bereitstellung von Informationen in kanonischen Prozessen im Hinblick auf die Rechte der Opfer, die Rechte der Verteidigung der Angeklagten und die Rechte der Gläubigen weiter zu untersuchen. Es wurde die Notwendigkeit geäußert, zu untersuchen, wie in verschiedenen Staaten der Welt die Rechte der Opfer in Strafprozessen zur Entfaltung kommen, z.B. durch die Bereitstellung eines Prokurators oder anderer Helfer. Was kann die Kirche von diesen Bestimmungen lernen? Diese und andere Fragen sollen insbesondere unter dem Gesichtspunkt der „Förderung und des Schutzes der Menschenwürde" untersucht werden, da dies ein integres Handeln der Kirche ermöglicht. Integrität ist unerlässlich für den Erfolg des missionarischen Auftrages der Kirche.

 

Die Niederländerin Myriam Wijlens ist Professorin für Kirchenrecht an der Universität Erfurt (Deutschland) und Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen.

 

(vatican news)

 

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17. Februar 2021, 11:01