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Jesus am Kreuz Jesus am Kreuz 

Die Weiterentwicklung der Doktrin: Treue in der Neuheit

Gewisse Kritiken am gegenwärtigen Pontifikat stellen das Zweite Vatikanische Konzil in Frage und ignorieren das Lehramt von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. - eine Übersicht.

Sergio Centofanti - Vatikanstadt


Einige Kritiken doktrinärer Natur am gegenwärtigen Pontifikat weisen eine allmählich voranschreitende, aber doch immer klarere Distanz zum Zweiten Vatikanischen Konzil auf. Und dies nicht wegen einer bestimmten Interpretation einiger Texte, sondern der Konzilstexte selbst. Einige Lesarten, die sich darauf versteift haben, Papst Franziskus in Gegensatz zu seinen unmittelbaren Vorgängern zu stellen, führen letztlich dazu, dass auch der heilige Johannes Paul II. und Benedikt XVI. offen kritisiert oder zumindest einige grundlegende Aspekte ihres Lehramtes zum Schweigen gebracht werden, die eine offensichtliche Weiterentwicklung des letzten Konzils darstellen.

Die Prophezeiung des Dialogs

Ein Beispiel dafür war kürzlich der 25. Jahrestag der Enzyklika „Ut unum sint“, in der Papst Wojtyla erklärt, dass ökumenisches Engagement und der Dialog mit Nicht-Katholiken eine Priorität der Kirche darstellen. Der Jahrestag wurde von denjenigen ignoriert, die heute eine reduktive Interpretation der Tradition vorschlagen, die sich nicht nur dem lehrmäßigen „Dialog der Liebe“, sondern auch dem doktrinären Dialog verschließt, der vom polnischen Papst im Gehorsam gegenüber dem glühenden Wunsch unseres Herrn nach Einheit gefördert wurde.

Die Prophezeiung der Vergebung

Ebenso übersehen wurde ein weiterer wichtiger Jahrestag: die Vergebungsbitte des Jubiläums, die der heilige Johannes Paul II. am 12. März vor zwanzig Jahren allen Widerständen zum Trotz aussprechen wollte. Die prophetische Kraft eines Pontifex, der um Vergebung für die von den Kindern der Kirche begangenen Sünden bittet, ist überwältigend. Und wenn man von „Kindern“ spricht, dann gilt das auch für die Päpste. Man weiß, dass diejenigen, die um Vergebung für die begangenen Fehler bitten, sich selbst in eine riskante Situation der Revision begeben. Wojtyla wählte prophetisch den Weg der Wahrheit. Die Kirche kann und darf keine Angst vor der Wahrheit haben.

Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation, unterstrich die „Neuheit dieser Geste“, ein „öffentlicher Akt der Buße der Kirche für die Sünden der Vergangenheit und der Gegenwart“: ein „mea culpa des Papstes im Namen der Kirche“, eine wahrhaft „neue Geste, aber dennoch in einer tiefen Kontinuität mit der Geschichte der Kirche, mit ihrem eigenen Gewissen.“ 

Inquisition und Gewalt: ein wachsendes Gewissen

Im Laufe der Geschichte wurden viele schwarze Legenden über die Inquisition, die Scheiterhaufen und verschiedenste Formen der Intoleranz durch die Kirche gestrickt, die übertrieben, verfälscht, und dekontextualisiert wurden, um den großen und entscheidenden Beitrag des Christentums für die Entwicklung der Menschheit aus der Erinnerung zu löschen. Historiker haben oft viele Verzerrungen und Mythisierungen der Wirklichkeit wieder zurechtgerückt. Das hindert uns aber nicht daran, eine ernsthafte Gewissenserforschung durchzuführen, um „die Verirrungen der Vergangenheit zu erkennen“ und „unser Gewissen wachzurütteln angesichts der Kompromisse der Gegenwart“. Daher die Bitte um Vergebung „für die Spaltungen, die unter den Christen entstanden sind, für den Gebrauch der Gewalt, zu dem einige von ihnen im Dienst an der Wahrheit geschritten sind, und für die bisweilen eingenommenen Haltungen des Mißtrauens und der Feindseligkeit gegenüber den Anhängern anderer Religionen.“

„Eben weil die Kirche, geführt vom Heiligen Geist, im Laufe der Zeit mit immer lebendigerem Bewußtsein erkennt, welches die Erfordernisse ihrer Gleichförmigkeit mit dem Bräutigam sind, ist ein derartiges Unterscheidungsvermögen möglich“, bekräftigte er bereits 1998 mit Blick auf das Evangelium, das die intoleranten und gewalttätigen Methoden ablehnt, die „in der Geschichte ihr Gesicht entstellt haben“.

Der Fall Galileo

Ein Fall, der besondere Aufmerksamkeit erregte, war der von Galileo Galilei, des großen italienischen Wissenschaftlers, einem Katholiken, der - wie Johannes Paul II. sagte - „viel zu leiden hatte, wir können es nicht verleugnen, wegen Männern und Organisationen der Kirche“. Papst Wojtyla betrachtet die Geschichte „im Licht des historischen Kontextes“ und „der Mentalität der Zeit“. Obwohl die Kirche von Christus gegründet wurde, „besteht sie dennoch weiterhin aus Männern und Frauen, die durch ihre kulturelle Epoche beeinflusst und limitiert sind“. Auch sie „lernt durch Erfahrung“, und die Geschichte Galileos „ermöglichte eine Reifung und ein gerechteres Verständnis ihrer Autorität“. Das Verständnis für die Natur der Wahrheit wächst: Sie ist nicht ein für allemal gegeben.

Eine kopernikanische Wende

Der polnische Papst erinnert: „Ferner war die geozentrische Darstellung der Welt in der Kultur der Zeit allgemein als vollkommen der Lehre der Bibel entsprechend anerkannt, in der einige Aussagen, wenn man sie wörtlich nahm, den Geozentrismus zu bestätigen schienen. Das Problem, welches sich die Theologen der Zeit stellten, war also die Übereinstimmung des Heliozentrismus mit der Heiligen Schrift. So zwang die neue Wissenschaft mit ihren Methoden und der Freiheit der Forschung, die sie voraussetzte, die Theologen, sich nach ihren Kriterien für die Deutung der Bibel zu fragen. Dem Großteil gelang dies nicht. Merkwürdigerweise zeigte sich Galilei als aufrichtig Glaubender in diesem Punkte weitsichtiger als seine theologischen Gegner“, die bei dem Versuch, den Glauben zu verteidigen, in Irrtümer verfielen.

„Die vom kopernikanischen System hervorgerufene Umwälzung“ hatte somit „Auswirkungen auf die Interpretation der Bibel“: Galilei, kein Theologe, sondern katholischer Wissenschaftler, „führte das Prinzip einer Interpretation der heiligen Bücher ein, die über den Wortsinn hinausgeht, aber der Absicht und der Art der Darstellung entspricht, die jedem von ihnen eigen ist“, entsprechend den literarischen Gattungen. Eine Position, die 1943 von Pius XII. mit der Enzyklika „Divino afflante Spiritu“ bestätigt wurde.

Die Evolutionstheorie

Ein ähnliches Bewusstseinswachstum in der Kirche fand in Bezug auf die Evolutionstheorie statt, die dem Schöpfungsprinzip zu widersprechen schien. Eine erste Öffnung war die von Pius XII. mit der Enzyklika „Humani generis“ von 1950: Am kommenden 12. August wird sie 70 Jahre alt. Johannes Paul II. bekräftigt, dass Schöpfung sich „im Licht der Evolution als ein zeitlich erstrecktes Geschehen – als creatio continua – dar[stellt], in dem Gott als der „Schöpfer des Himmels und der Erde“ den Augen des Glaubens sichtbar wird.“ 

Papst Franziskus betont: „Wenn wir im Buch Genesis den Schöpfungsbericht lesen, so riskieren wir, uns vorzustellen, Gott sei ein Magier gewesen mit einem Zauberstab, der alle Dinge verwirklichen kann. Dem ist nicht so. Er hat die Wesen erschaffen, und er hat sie entwickeln lassen gemäß den inneren Gesetzen, die er jedem gegeben hat, damit sie sich weiterformen und ihre eigene Fülle erreichen. (...) Der »Big-Bang«, der Urknall, den man heute an den Anfang der Welt setzt, steht nicht in Widerspruch zum göttlichen Schöpfungsplan, er verlangt nach ihm. Die Evolution in der Natur steht nicht im Kontrast zum Begriff Schöpfung, denn die Evolution setzt die Erschaffung der Wesen voraus, die sich entwickeln“.

Die Entwicklung des Freiheitsbegriffs

Im Neuen Testament, aber nicht nur dort, gibt es sehr intensive Aufrufe zur Freiheit, die die Geschichte verändert haben: aber sie werden nach und nach entdeckt. Papst Bonifatius VIII. hat mit der Bulle „Unam sanctam“ von 1302 die Überlegenheit der geistlichen Autorität über die weltliche Autorität bekräftigt. Es war eine andere Ära. Fast 700 Jahre später stellte Johannes Paul II. in einer Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg fest, dass das mittelalterliche Christentum noch nicht „zwischen der Sphäre des Glaubens und der des bürgerlichen Lebens“ unterschied. Die Folge dieser Vision war die „integralistische Versuchung, diejenigen, die sich nicht zum wahren Glauben bekannten, aus der weltlichen Gemeinschaft auszuschließen“.

Noch 1791 kritisierte Pius VI.  in einem Brief an die französischen Bischöfe die von der Nationalversammlung verabschiedete Verfassung, die „als einen Grundsatz des Naturrechts festlegte, dass der Mensch, der in der Gesellschaft lebt, völlig frei sein soll, das heißt, dass er in Religionsfragen von niemandem beeinflusst werden darf und frei denken kann, wie er will, und in Religionsfragen alles schreiben und sogar mittels der Presse veröffentlichen kann“. Und 1832 spricht Gregor XVI. in seiner Enzyklika „Mirari vos“ von der Gewissensfreiheit als „dem giftigsten Irrtum“ und „Delirium“, während Pius IX. im Syllabus von 1864 unter den „Hauptfehlern unserer Zeit“ verurteilt, „dass die katholische Religion nicht mehr als die einzige Staatsreligion betrachtet werden sollte, unter Ausschluss aller anderen Kulte, welche auch immer diese sein mögen“ und die Tatsache, dass „in einigen katholischen Ländern per Gesetz festgelegt wurde, dass diejenigen, die dorthin gehen, das Recht auf öffentliche Ausübung des eigenen Kults haben“.

Das Zweite Vatikanische Konzil macht mit seinen Erklärungen „Dignitatis humanae“ zur Religionsfreiheit und „Nostra aetate“ zum Dialog mit den nichtchristlichen Religionen einen Sprung, der an das Konzil von Jerusalem der ersten christlichen Gemeinschaft erinnert, das die Kirche für die ganze Menschheit öffnet. Angesichts dieser Herausforderungen bekräftigt Johannes Paul II., dass der „Hirte ... wirklich kühn sein“ muss.

Anhalten, aber in welchem Jahr?

Im Jahr 1988 (Apostolisches Schreiben „Ecclesia Dei") kam es zur Abspaltung der Piusbruderschaft. Deren Anhänger lehnten die durch das II. Vatikanische Konzil herbeigeführten Entwicklungen ab: Sie vertraten die Auffassung, dass eine neue Kirche geschaffen worden sei. Benedikt XVI. verwendet ein starkes Bild, wenn er sie ermahnt, dass man „die Lehrautorität der Kirche nicht im Jahr 1962 einfrieren“ kann. Bereits im Jahr 1870 hatten die „Altkatholiken“ das Erste Vatikanische Konzil wegen des Dogmas der Unfehlbarkeit verurteilt. Die katholische Kirche hat in ihrer Geschichte mehr als 20 Konzile erlebt: Und jedes Mal gab es jemanden, der die neuen Entwicklungen nicht akzeptierte und stehen blieb. Pius IX. verkündete 1854 das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis.

Aber ein großer Heiliger, Bernard von Clairvaux, obwohl einer der glühendsten Propagatoren der Marienverehrung, äußerte bereits einige Jahrhunderte vorher angesichts der schrittweisen lokalen Diskussion und Einführung eines eigenen Festes der Unbefleckten Empfängnis der Gottesmutter seinen Widerstand dagegen, diese Wahrheit anzuerkennen: „Ich bin sehr besorgt, da viele von euch beschlossen haben, die Bedingungen wichtiger Ereignisse zu ändern, wie beispielsweise die Einführung dieses Festes, das der Kirche unbekannt, sicherlich nicht von der Vernunft gebilligt und nicht einmal durch die antike Tradition gerechtfertigt ist. Sind wir wirklich gelehrter und frommer als unsere alten Väter?“ Wir befinden uns im 12. Jahrhundert. Seitdem hat die Kirche weitere unbekannte Feste eingeführt, die wahrscheinlich für viele Gläubige, die in früheren Jahrhunderten lebten, einen Skandal dargestellt hätten.

Der Weg Jesu: Neues und Altes

Jesus sagte, er sei nicht gekommen, um das Gesetz abzuschaffen, „sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17). Er lehrte, nicht einmal „eines dieser Gesetze“ aufzuheben und Dementsprechendes zu lehren (Mt 5,19). Dennoch wurde ihm vorgeworfen, gegen die mosaischen Gesetze zu verstoßen, wie die Sabbatruhe oder das Verbot, Umgang mit öffentlich bekannten Sündern zu haben. Und die Apostel machten den großen Sprung: Sie schafften die heilige Verpflichtung zur Beschneidung ab, die sogar auf Abraham zurückgeht und 2000 Jahre lang in Kraft war, und öffneten den Heiden die Tür, was zu jener Zeit undenkbar war. „Seht," sagt der Herr, „ich mache alles neu" (Offb 21,5). Es ist der „neue Wein“ der evangelischen Liebe, der immer Gefahr läuft, in die „alten Schläuche“ unserer religiösen Sicherheiten gesteckt zu werden, die den lebendigen Gott, der nie aufhört, zu uns zu sprechen, so oft zum Schweigen bringen. Es ist die Weisheit des „Jüngers des Himmelreiches", der die Fülle des Gesetzes sucht, die Gerechtigkeit, die die der Schriftgelehrten und Pharisäer übertrifft, indem er „aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt" (Mt 13,52). Nicht nur neue Dinge, nicht nur antike Dinge.

(vatican news - cs)

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24. Juni 2020, 17:10